Kann Kernfusion die Welt mit Energie versorgen?
13. Dezember 2022Das US-Energieministerium hat einen wichtigen Durchbruch in der Kernfusionstechnologie verkündet. Wissenschaftlern in der National Ignition Facility (NIF) des kalifornischen Lawrence Livermore National Laboratory ist es erstmals gelungen, mithilfe der Kernfusion in einem Labor einen "Nettoenergiegewinn" zu erzielen.
"Dies ist ein Meilenstein für die Forscher und Mitarbeiter der National Ignition Facility, die ihre Karriere der Verwirklichung der Kernfusion gewidmet haben, und dieser Meilenstein wird zweifellos weitere Entdeckungen nach sich ziehen", sagte US-Energieministerin Jennifer M. Granholm. "Einfach ausgedrückt ist dies eine der beeindruckendsten wissenschaftlichen Leistungen des 21. Jahrhunderts."
Jahrzehntelang haben Forschende mehr Energie in experimentelle Fusionsreaktoren gesteckt als durch den Prozess insgesamt an neuer Energie gewonnen wurde. Diese Rückschläge haben dazu geführt, dass nicht die Kernfusion, sondern die Kernspaltung - trotz der damit verbundenen Gesundheits- und Sicherheitsrisiken - zum Standardverfahren auf dem Weg zu unbegrenzter, emissionsfreier Energie geworden ist.
Am 5. Dezember 2022 führten NIF-Wissenschaftler nun das erste kontrollierte Fusionsexperiment in der Geschichte durch, bei dem mehr Energie aus der Fusion gewonnen wurde als Energieaufwand dafür nötig war. Damit sind die Forschenden der Energieerzeugung im großen Stil einen bedeutenden Schritt näher gekommen.
Die "Zukunft der Energie"
Wer im Bereich der Atomenergie arbeitet, kennt den Witz wahrscheinlich schon: Die Erzeugung von Strom mithilfe von Kernfusion ist immer noch 30 Jahre entfernt - das galt für Forschende vor 10 Jahren genauso wie heute. Trotz der Komplexität dieser Technologie sind diejenigen, die daran arbeiten, aber der festen Überzeugung, dass sie alle Mühe wert ist.
Aber warum? Kernfusion hat ein höheres Energiepotenzial als alle anderen uns bekannten Energiequellen. Sie kann fast vier Millionen Mal mehr Energie freisetzen als chemische Reaktionen wie die Verbrennung von Kohle, Öl oder Gas, und vier Mal mehr als die Kernspaltung, das Verfahren, das derzeit in allen Kernkraftwerken der Welt eingesetzt wird. Die Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte Kernfusion wird von vielen politischen Entscheidungsträgern und Entscheidungsträgerinnen, insbesondere in Europa, als die Energie der Zukunft angesehen.
Doch ist die Kernfusion wirklich eine "grüne" Alternative zu unseren jetzigen Methoden, und wie weit sind wir bei der Stromerzeugung mit diesem Verfahren gekommen?
Wie das "Verbrennen von Feuerholz"
Um dem nachzugehen, bietet sich ein Besuch am Internationalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, kurz: ITER, an - ein großes Gemeinschaftsprojekt von Kernfusionsexperten aus 35 Ländern.
Der ITER liegt ein paar Stunden von der malerischen Küste Südfrankreichs entfernt, dort ragt er aus der idyllischen Landschaft hervor, die ihn umgibt. Das Projektgelände ist voll von Metallhallen, Werkstätten und Ausrüstung. Forschende, Techniker und Technikerinnen streifen in Schutzhelmen, Gummistiefeln und neonfarbenen Westen über das Gelände.
Inmitten dieser Industrielandschaft sagt Pietro Barabaschi, der Generaldirektor von ITER, dass die Zukunft der Fusionsenergie vielversprechend sei.
Er vergleicht die Erzeugung von Fusionsenergie mit dem Verbrennen von Feuerholz. "Zuerst zündet man eine Flamme an, das Holz erhitzt und irgendwann setzt eine chemische Reaktion ein. Diese Reaktion reicht aus, um den Rest des Holzes zu verbrennen."
Energiegewinnung durch Kernfusion
Atome bestehen aus einem Kern (mit Protonen und Neutronen) und Elektronen. Bei der Kernfusion werden zwei Atome zu einem einzigen verschmolzen, indem man ihre Kerne zerschlägt. Dabei entsteht überschüssige Energie, die Kernfusionswissenschaftler in Elektrizität umwandeln wollen. Die soll eines Tages einmal unsere Häuser beleuchten.
Technisch gesehen nutzen wir bereits Energie aus schnell fliegenden Neutronen in Kernspaltungskraftwerken. Warum bleiben wir also nicht einfach dabei?
Fusion versus Spaltung
Im Gegensatz zur Kernfusion werden bei der Spaltung nicht zwei leichte Atome miteinander verschmolzen, sondern ein schweres Atom wird in zwei oder mehr Atome gespalten.
Alle Kernkraftwerke der Welt verwenden Spaltungsreaktoren zur Stromerzeugung. Frankreich, wo sich der ITER befindet, bezieht 70 Prozent seiner Energie aus der Kernspaltung. In den meisten Ländern ist die Kernspaltung jedoch keine beliebte Brennstoffquelle, da die Öffentlichkeit Angst vor schädlicher Strahlung hat, die durch Unfälle wie die Katastrophe von Tschernobyl, die Kernschmelze in Fukushima und die partielle Kernschmelze im "Three Mile Island"-Kernkraftwerk in den USA geschürt wurde.
Der Hauptunterschied zwischen Kernspaltung und Kernfusion besteht in der Radioaktivität des Brennstoffs, der bei beiden Verfahren erzeugt wird, erklärt Akko Maas, ITER Knowledge Officer. Er ist seit Beginn der Forschung am ITER Teil des Teams.
"Bei der Kernspaltung ist sowohl das verwendete Uran als auch das erzeugte Plutonium radioaktiv. Und wenn man die Energie aus ihnen herausgeholt hat, bleibt immer noch radioaktives Material übrig." Von den beiden Grundstoffen, die als am effizientesten für die Fusionsenergie gelten, ist Deuterium nicht radioaktiv, Tritium hingegen schon. Allerdings ist seine Strahlung vergleichsweise schwach und kurzlebig.
"Wenn man die Materialien richtig auswählt, kann man selbst im industriellen Maßstab die Radioaktivität bei der Fusion auf 100 bis 200 Jahre begrenzen, was weitaus überschaubarer ist als die 40.000 Jahre, die wir bei der Kernspaltung beobachten", sagt Maas.
Der "grüne" Vorteil
Befürworter der Kernenergie behaupten nicht nur, dass sie hocheffizient ist, sondern auch, dass sie unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen drastisch verringern könnte. Die Kernenergie selbst gilt als kohlenstofffreie Alternative zu fossilen Brennstoffen, da bei ihrer Erzeugung keine Treibhausgase freigesetzt werden - ihr Hauptnebenprodukt ist Helium, ein reaktionsloses, ungiftiges Gas.
Außerdem ist Deuterium im Meerwasser reichlich vorhanden, und Forschende versuchen, Tritium mithilfe von Lithium an Ort und Stelle zu erzeugen.
Erneuerbare Energiequellen wie Wind- und Solarenergie allein können den weltweiten Grundbedarf an Energie nicht decken. Die Kernfusion könnte - wenn sie erfolgreich ist - weit mehr als das liefern. Das alles klingt zwar rosig, ist aber bislang noch ein ferner Traum. Damit die Kernfusion Wirklichkeit werden kann, braucht es einen technologischen Durchbruch in der Plasmaphysik. "Technisch gesehen ist es schwierig, eine Fusionsreaktion zu erreichen, die sich selbst aufrechterhält und stabil ist", sagt Barabaschi.
Plasma "schaltet ab"
Die Strahlen der Sonne und die Wärme, die wir auf der Erde spüren, sind das Ergebnis einer Fusionsreaktion - der Prozess findet im Sonnenkern unter extremen Temperaturen und Druck statt. Die Herausforderung besteht darin, die Vorgänge im Sonnenkern zu reproduzieren, allerdings ohne den Druck, der durch die Schwerkraft der schweren Sonnenmasse entsteht.
Um die Fusion auf der Erde zu erreichen, müssen die Gase auf extrem hohe Temperaturen von etwa 150 Millionen Grad Celsius erhitzt werden, was etwa dem Zehnfachen der Temperatur des Sonnenkerns entspricht. An diesem Punkt werden die Gase zu Plasma, das fast eine Million Mal leichter ist als die Luft, die wir atmen.
Fusionsforschende haben festgestellt, dass die Erzeugung eines Plasmas durch Erhitzen eines Gemischs aus Deuterium und Tritium der einfachste Weg ist, um eine Umgebung zu schaffen, in der eine Fusion stattfinden und Energie erzeugt werden kann.
Am ITER wird das für die Fusionsexperimente verwendete Plasma in einer Anlage, Tokamak genannt, durch ein starkes Magnetfeld eingegrenzt. Unter diesen extremen Bedingungen kollidieren die Teilchen im Plasma schnell und erzeugen Wärme. Doch paradoxerweise sinkt die Kollisionsrate - und damit der Heizeffekt -, wenn die Temperatur weiter ansteigt. "Es ist, als ob das Plasma ab einem bestimmten Punkt abgeschaltet wird", sagt Barabaschi.
Um auf die Holzanalogie zurückzukommen: Es ist so als wüsste man nicht, wie man ein Feuer entfachen kann, das das "brennende Plasma" aufrechterhält. Dies ist die größte Herausforderung, vor der die Fusionsexperimente in der ganzen Welt stehen.
Die Schmelzsicherung
Was des einen Leid ist, ist des anderen Freud. Das "Abschalten" des Plasmas bei ungünstigen Bedingungen bedeutet auch, dass die Reaktion bei Instabilität stoppt. Das macht die Fusion sicherer als die Spaltung, so Experten.
Eine Kernschmelze wie in Fukushima ist in einem Fusionsreaktor unwahrscheinlich, sagt Gilles Perrier, Leiter der Abteilung Sicherheit und Qualität am ITER. In einem Spaltreaktor gäbe es einen radioaktiven Kern, der im Falle einer Abschaltung des Reaktors noch abkühlen müsste.
"Bei der Kernspaltung ist das Risiko eines Unfalls viel höher. Bei der Fusion ist es sehr gering", so Perrier. Seiner Meinung nach besteht die Sicherheit in einer Fusionsanlage aus drei Teilen: Der Einschluss des Plasmas, die Verringerung der Strahlenbelastung und die Vermeidung einer Tritiumkontamination. Das Plasma wird in einem Vakuumbehälter eingeschlossen. "Selbst im schlimmsten Fall eines Plasmaaustritts bleiben die Auswirkungen auf den Standort beschränkt", sagt er.
Vom Experiment zu Elektrizität
Bislang konnten Forschende aus der Fusion höchstens 59 Megajoule Energie in fünf Sekunden erzeugen. Das ist ungefähr genug Strom, um eine kleine Glühbirne zwei Monate lang zu betreiben. Die Herausforderung, mit der sich die Forschenden jetzt auseinandersetzen, ist die Frage, wie man Strom in (viel) größerem Maßstab erzeugen kann.
Barabaschi sagt, der Übergang von einem Fusionsexperiment zu einem stromerzeugenden Reaktor sei wie der Übergang von der Verbrennung von Holz zu einem Kohlekraftwerk. Obwohl es sich um eine große Herausforderung handelt, ist er optimistisch, dass der Versuchsreaktor am ITER bis zum Ende des Jahrzehnts funktionsfähig sein wird und in den nächsten 30 Jahren zur Errichtung eines Demonstrationskraftwerks beitragen kann.
Letzten Endes braucht die Kernfusionstechnologie Zeit - aber die haben wir nach Ansicht einiger Wissenschaftler nicht. Die Fusionsenergie kann die Energiekrise in diesem Winter sicher nicht lösen, und sie wird auch nicht dazu beitragen, die Emissionen in naher Zukunft zu senken.
In seinem Buch "The Fairy Tale of Nuclear Fusion" (Das Märchen von der Kernfusion) vertritt der Nuklearwissenschaftler LJ Reinders die Ansicht, dass die Fusionsenergie zu spät kommen wird, um unsere drängendsten Klimaprobleme in den Griff zu bekommen. Barbaschi hingegen ist der Meinung, dass es bei Investitionen in die Kernfusion nicht darum geht, unseren heutigen Energiebedarf zu decken, sondern den in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel wurde ursprünglich am 6. Dezember 2022 auf Englisch veröffentlicht. Er wurde am 13. Dezember 2022 übersetzt und aktualisiert, um die Erklärung des US-Energieministeriums zu berücksichtigen.