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Lebenslange Haft für IS-Kämpfer

30. November 2021

Wegen Völkermords an den Jesiden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat das Oberlandesgericht Frankfurt einen Anhänger des "Islamischen Staats" verurteilt. Es ist weltweit das erste Urteil dieser Art.

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Frankfurt Oberlandesgericht Prozess einen IS-Anhänger aus dem Irak
Bild: Getty Images/AFP/A. Dedert

Dieses Urteil schreibt Rechtsgeschichte: Zum ersten Mal weltweit hat ein Gericht entschieden, dass ein ehemaliges Mitglied des sogenannten Islamischen Staats sich des Völkermords an der Religionsgemeinschaft der Jesiden schuldig gemacht hat. Die Richter am Oberlandesgericht Frankfurt sprachen den aus dem Irak stammenden 29-jährigen Anhänger der Dschihadistenmiliz am Dienstag zudem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge schuldig. Ganz konkret ging es um den grausamen Tod eines fünfjährigen Mädchens.

Seit Mai 2020 stand der angeklagte Iraker in Frankfurt vor Gericht. Das Kind lebte mit seiner jesidischen Mutter als Sklavin im Haushalt des IS-Mitglieds - und seiner deutschen Frau. Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. war Ende Oktober in einem separaten Prozess zu einer Haftstrafe von zehn Jahren verurteilt worden – unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, wegen Sklavenhaltung mit Todesfolge und Beihilfe zum versuchten Mord durch Unterlassung. Es ging um das gleiche Kind. 

Die Angeklagte Jennifer W. (l) wird am 25. 10. 2021 vor Beginn der Verhandlung in den Gerichtssaal geführt. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem Aktenordner
In München wurde Jennifer W. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie ist die Ex-Frau des nun in Frankfurt VerurteiltenBild: picture alliance/dpa

Tod in der Hitze Falludschas

Im Sommer 2015 hat sich das Drama zugetragen, in Falludscha im Nordirak. Dort herrschte damals die Terrormiliz IS. Die vom IS verschleppte Jesidin Nora T. musste im Haus putzen, Wäsche waschen, sich um den Haushalt kümmern; ihre Tochter Reda sollte vor allem Eines: nicht stören. An einem heißen Augusttag, das berichten übereinstimmend die Zeugin Nora T. wie auch Jennifer W., habe das Mädchen das Bett eingenässt. Zur Strafe band der nun Verurteilte das Mädchen in der prallen Sonne an ein Fenstergitter. So lange, bis es starb.

Siebenmal hat Nora T. in Frankfurt als Zeugin ausgesagt, in München sogar elfmal. Immer wieder hat die gebeugte Frau von diesem schlimmen Tag erzählen müssen, an dem ihre Tochter starb. Sie ist Ende vierzig – und sieht 20 Jahre älter aus. In ihrem Schicksal spiegelt sich das Schicksal ihres Volkes, der Jesiden. Die halten ihre Religion für die älteste der Welt. Sie glauben an einen Gott, aber sie verehren auch Engel. Die Terrormiliz IS brandmarkte die Jesiden als "Ungläubige" und "Teufelsanbeter" – und machte 2014 systematisch Jagd auf sie.

Leben sie noch oder oder wurden verscharrt?

Ein Sohn blieb Nora T.

7000 Frauen und Kinder wurden nach Schätzungen der Vereinten Nationen versklavt und verkauft, viele werden noch immer vermisst. Wer männlich war und alt genug, dass ihm Achselhaare wuchsen, wurde ermordet – Tausende von Menschen. Von ihrer Familie ist Nora T. nur ein Sohn geblieben. Mit dem lebt sie von Polizisten beschützt an einem geheimen Ort in Deutschland im Zeugenschutzprogramm. Aber als Nebenklägerin streifte sie in den Gerichtssälen ihre Opferrolle ab. Unterstützt wurde sie dabei von der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney; vertreten wurde Nora T. von der deutschen Anwältin Natalie von Wistinghausen.

Dass der Tod ihrer Tochter Reda im Irak vor einem deutschen Gericht verhandelt wurde, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip im Völkerstrafgesetzbuch. Das erlaubt es deutschen Staatsanwälten und Gerichten, Verbrechen auch dann zu verfolgen, wenn die Tat nicht in Deutschland begangen wurde und weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Im Fall des nun verurteilten IS-Kämpfers kommt eine weitere Besonderheit hinzu: Der Iraker befand sich bei seiner Verhaftung noch nicht einmal auf deutschem Boden. Die Bundesanwaltschaft ließ ihn eigens in Griechenland verhaften und nach Deutschland ausliefern.

Für den Völkerrechtler Alexander Schwarz zeigt der Prozess damit "die Bereitschaft Deutschlands, Völkerrechtsverbrechen tatsächlich weltweit zu verfolgen und nicht an nationalen Grenzen Halt zu machen." 

Im Vordergrund ein Totenkopf, im Hintergrund Soldaten beim Ausgraben und Überprüfen von Funden im Nordirak
Grausiges Erbe: Massengrab von Jesiden im NordirakBild: Getty Images/J. Moore

Völkermord oder Unfall?

Wie kann aus dem schrecklichen Tod der kleinen Reda ein Völkermord werden? Dadurch, dass die Richter es als erwiesen ansahen, dass die Art und Weise, wie der Angeklagte Nora T. und ihre Tochter behandelt hat, Teil eines IS-Planes zur Zerstörung der Religionsgemeinschaft der Jesiden war. "Genozid ist das schwerste Verbrechen, dass das Völkerstrafrecht kennt. Aber Genozid ist gleichzeitig der Straftatbestand, der am schwersten zu beweisen ist", führt Völkerrechtler Schwarz aus. "Denn man muss dem Täter die Absicht nachweisen; man muss ihm nachweisen, dass es ihm wirklich subjektiv darum ging, die Religionsgemeinschaft der Jesiden zu vernichten, zu zerstören." 

Am 24. April 2020 spricht Anwalt Serkan Alkan im Frankfurt Oberlandesgericht mit seinem Mandanten Taha A.-J., der seinen Kopf hinter einem Aktenordner verbirgt.
Anwalt Serkan Alkan (links) vertrat den Angeklagten in Frankfurt Bild: Getty Images/AFP/A. Dedert

Die Verteidigung versuchte ihren Mandanten möglichst weit weg zu rücken von dem organisierten Vernichtungsfeldzug des IS gegen die Jesiden. Die Mutter des Mädchens sei für ihn lediglich eine Haushaltshilfe gewesen. Der Tod des Mädchens könne auch auf eine Vorerkrankung zurückgehen. An hohe Temperaturen seien die Kinder im Irak gewöhnt. "Der Tod des Kindes war ein schrecklicher Unfall, den er bestimmt nicht gewollt hat", sagte der Verteidiger laut Nachrichtenagentur dpa. Doch dem folgten die Richter in ihrem Urteilsspruch nicht.

Mordprozess ohne Leiche

Für die Unfallsthese sprach, dass der Angeklagte das jesidische Mädchen unmittelbar in ein örtliches Krankenhaus gebracht hat. Die Verteidigung hatte sogar Zweifel daran gesät, dass das Kind überhaupt gestorben sei. Im Mai erklärte sie unter Berufung auf eine Mitarbeiterin des Krankenhauses von Falludscha sowie einen entfernten Onkel des Angeklagten, Reda sei eine Woche im Krankenhaus gepflegt worden: Dann hätte ein IS-Mann das Mädchen weggebracht. Heute lebe das Mädchen im nordsyrischen Idlib. Beweise dafür, räumte die Verteidigung ein, seien allerdings nur schwer zu bekommen.

Jesiden im August 2014 auf der Flucht vor IS-Kämpfern. Eine Mutter trägt ihr Kind auf dem Rücken, andere schleppen einige Taschen auf dem Weg vom Berg Sindschar zur türkischen Grenze
2014 überfiel der IS das Siedlungsgebiet der Jesiden. Zehntausende flohen, Tausende starben oder wurden versklavt. Bild: picture-alliance/Y. Akgul

Dieses Detail zeigt, wie schwierig und aufwendig das Führen solcher Prozesse fernab der Tatorte ist. Zwar sichtet und sammelt die Bundesanwaltschaft seit Jahren in sogenannten Strukturermittlungsverfahren Beweismittel für Völkerrechtsverbrechen des IS. Die können dann in Ermittlungsverfahren gegen konkrete Beschuldigte verwendet werden. Aber insgesamt, urteilt der Völkerrechtler Alexander Schwarz, "ist Deutschland nicht in der Lage, mit seinen beschränkten Ressourcen die Masse an Völkerrechtsverbrechen des Islamischen Staates aufzuklären". Ein internationales Straftribunal etwa im Irak könne zumindest einen großen Anteil dieser Verbrechen aufklären. "Gegenwärtig spricht aber nicht viel dafür, dass es zu einem solchen Tribunal kommt", so Schwarz.

Internationales Tribunal

Insofern sind Prozesse wie der in Frankfurt vielleicht zwar nur die zweitbeste Lösung. Aber sie haben eine enorme Bedeutung. Für Nora T. im Besonderen, und für die Jesiden im Allgemeinen. An der Außenwand des Frankfurter Oberlandesgerichts steht in Lettern aus Metall der Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Gerade die Jesidinnen, denen der IS ihre Würde auf tausenderlei grausame Art nehmen wollte, schauen auf diesen Satz. Und hoffen auf Gerechtigkeit.

Mit dem Urteil gegen den 29-jährigen IS-Anhänger ist diese nun zumindest juristisch hergestellt. Neben der lebenslange Haftstrafe für den Angeklagten verfügte das Gericht auch eine Schmerzensgeldzahlung an die überlebende Mutter in Höhe von 50.000 Euro. 

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein