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Jeder fasse sich an seine eigene Nase

Alexander Warkentin 25. Oktober 2002

Das Drama in Moskau dauert an. Die Forderungen der Terroristen sind so klar wie unannehmbar für den Kreml: Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien, Beendigung des Krieges. Alexander Warkentin kommentiert.

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Eine Geiselnahme ist ein Akt der Barbarei. Da gibt es nichts zu relativieren. Es gibt keinerlei Umstände oder Motive, die so ein Verbrechen rechtfertigen könnten. Unabhängigkeitskampf, nationale Souveränität, Selbstbestimmungsrecht eines Volkes - all diese hehren Ziele verkommen zu zynischen Floskeln, wenn dafür das Leben von Zivilisten aufs Spiel gesetzt wird. Ein Freiheitskämpfer wird zu einem gemeinen Verbrecher in dem Moment, wenn er einen Unschuldigen als Geisel nimmt. Das Geiseldrama von Moskau spielt sich live und online auf den Bildschirmen der ganzen Welt ab. Die Welt ist zurecht zutiefst empört.

Seit gut acht Jahren wird in der nordkaukasischen Republik Tschetschenien fast ununterbrochen gekämpft. Hunderttausende Tschetschenen sind auf der Flucht. Die Opfer unter der tschetschenischen Zivilbevölkerung werden offiziell nicht gezählt. Nach Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen übersteigt die Zahl Hunderttausend. Die Tschetschenen sind in ihrem eigenen Land zum Freiwild erklärt worden. Die gesamte Zivilbevölkerung Tschetscheniens lebt seit Jahren in Geiselhaft. Der russische Menschenrechtler Sergei Kowaljow spricht sogar von Völkermord und Staatsterrorismus.

Die russischen Militärs und auch Russlands Präsident Wladimir Putin verweisen dagegen auf das oberste Gebot der Wahrung der territorialen Integrität Russlands. Sie behaupten, der Krieg sei beendet, in Tschetschenien herrsche wieder Recht und Ordnung. Es gelte nur noch einzelne versprengte Banditen unschädlich zu machen. Dabei vergeht fast kein Tag ohne Meldungen über Hubschrauberabschüsse, Bombenanschläge, Feuergefechte und die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Die Welt bekommt das nicht mit - und will es vielleicht auch gar nicht wahrnehmen. In Tschetschenien gibt es keine Fernsehkameras.

Die Geiselnahme von Moskau stellt nun den Kreml vor unangenehme Fragen: Wie konnten bis zu 50 Terroristen bis nach Moskau gelangen? Wie konnten diese schwerbewaffneten Frauen und Männer in Kampfmontur seelenruhig in einem Autokonvoi vorfahren und den Kulturpalast mitten in Moskau ohne jeglichen Widerstand in ihre Gewalt bringen?

Noch werden unter dem Schock der Ereignisse diese Fragen von der russischen Öffentlichkeit nicht gestellt. Aber die Antwort hat Präsident Putin vorausschauend bereits gegeben: Es sei eine terroristische Internationale, die den teuflischen Plan ausheckt und ausgeführt habe; es seien dieselben Drahtzieher, wie bei den Anschlägen in New York oder auf Bali. Putin übt den Schulterschluss mit George W. Bush als Kämpfer gegen das Böse in dieser Welt.

Dabei ignoriert die Führung in Moskau einen entscheidenden Punkt: die Terroristen und die meisten der Geiseln im Moskauer Kulturpalast haben die gleichen Pässe. Die Tschetschenen sind eben formell auch Bürger Russlands. In den zerbombten Städten und Dörfer und in den Flüchtlingslagern ist eine Generation herangewachsen, deren einzige Ideologie Hass, deren einziges Lebensziel Krieg heißt. Manche dieser Menschen sind für jede Art von religiösem Wahn empfänglich. Jeder weitere Kriegstag in Tschetschenien verstärkt die Gefahr, dass dort tatsächlich ein Hort des islamischen Fundamentalismus entsteht. Aber Moskau darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Der tschetschenische Terrorismus von heute ist nicht importiert, wie Präsident Putin suggerieren will. Er ist hausgemacht.