Iran: Wer vergiftet die Schulmädchen?
3. März 2023Seit November 2022 häufen sich im Iran Berichte über ungeklärte Vergiftungen in Mädchenschulen und Wohnheimen für Studentinnen. Bis zum Donnerstag sollen über 1000 Schülerinnen in 15 Städten des Landes Vergiftungen erlitten haben. Die Betroffenen berichten in Interviews mit staatlichen Medien, dass sie plötzlich von einem Geruch "wie von verfaultem Obst oder faulen Eiern oder einem starken Parfum" überwältigt wurden und kaum mehr atmen konnten. Manche seien bewusstlos geworden und mussten von Freundinnen ins Freie auf den Schulhof geschleppt werden. Auch über Schwindel und Übelkeit berichteten die Betroffenen, viele wurden ins Krankenhaus eingeliefert.
"In 90 Prozent der Fälle wegen Stress", behauptete der iranischen Innenminister Ahmad Vahidi am Mittwoch auf einer Pressekonferenz. Er wurde von Präsident Raisi beauftragt, die Vorfälle aufzuklären. Der stellvertretende iranische Gesundheitsminister Yunus Panahi äußerte am Sonntag die Vermutung, das Ziel der Angriffe sei die Schließung der Mädchenschulen. Am Dienstag griff das Parlament das Thema auf, Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montazeri leitete Ermittlungen ein.
Lehrergewerkschaft alarmiert
"Es gibt Proteste von Eltern vor den Schulen", berichtet eine 47-jährige Mutter aus Teheran im Gespräch mit der DW. "Viele überlegen sich, ihre Kinder nicht mehr zu Schule zu schicken. Meine erwachsene Tochter ist Studentin. Sie erzählt, dass diese Vergiftungen während der landesweiten Proteste in Wohnheimen angefangen haben. Seit Monaten gibt es Berichte darüber, aber niemand nahm sie ernst."
Der Koordinierungsrat der iranischen Lehrergewerkschaften hat für kommende Woche zu einer landesweiten Protestaktion aufgerufen. "Wer auch immer hinter diesen Angriffen steckt, sollte wissen, dass die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler unsere rote Linie ist", teilt Mohammed Habibi, das bekannteste Mitglied der iranischen Lehrergewerkschaft in Teheran, in sozialen Netzwerken mit. Habibi wurde in den vergangenen Jahren mehrmals wegen Streikaufrufen verhaftet.
Im Internet finden sich zahlreiche Nachrichten und Videos von vergifteten Mädchen und Studentinnen in verschieden Teilen des Landes. "Vielleicht haben sie Giftgase entwickelt und untersuchen ihre Wirksamkeit?", vermuten einige iranische User. Niemand glaubt, dass "keine Absicht" hinter diesen offenbar koordinierten mysteriösen Vergiftungen steckt, wie Innenminister Vahidi am Mittwoch behauptete. Der ehemalige Verteidigungsminister und General des Revolutionsrats steht seit Jahren auf einer Fahndungsliste von Interpol. Er war 1994 am Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires involviert; 85 Menschen wurden damals getötet.
"Was Vahidi behauptet, ist lächerlich", urteilt die Journalistin Moloud Hadschisadeh im Gespräch mit der DW. "Das Machtapparat im Iran hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein dichtes Netz von Überwachungskameras im Land installiert. Die Behörden wissen sogar, wer wo in welchem Auto ohne Kopftuch unterwegs war. Der Autobesitzer bekommt dann sofort eine SMS und wird gewarnt. Die Sicherheitsbehörde geben sogar an, dass sie genau wissen, wer wann an welcher Protestaktion beteiligt war. Protestierende werden oft ein paar Tage später zu Hause verhaftet. Und jetzt wollen sie keine Ahnung haben, wie mehr als 1000 Schulmädchen vergiftet wurden?"
Erinnerung an Säureattacken vor neun Jahren
Hadschisadeh wurde wegen ihrer Berichterstattung über die Protestbewegungen im Iran wiederholt verhaftet. Zuletzt war sie im Januar 2021 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Kurz bevor sie ihre Haftstrafe antreten sollte, floh sie aus dem Iran und lebt heute in Norwegen. "Ich beobachte diese Anschläge seit November und berichte darüber im Netz. Sie erinnern mich an die Säureanschläge in der Stadt Isfahan im Jahre 2014. Damals wurden Dutzende Frauen in Isfahan mit Säure attackiert, weil sie ihren Hidschab unvollständig getragen hatten. Es waren organisierte Attacken von jungen Männern, die nie verhaftet wurden, genauso wie jetzt bei diesen organisierten Anschlägen."
Die ersten mysteriösen Vergiftungen gab es in der für Schiiten heiligen Stadt Qom, die sehr konservativ geprägt ist. Extremistische Gruppen im Iran fordern ein Schulverbot für Mädchen. Als im November 2022 die ersten Meldungen über mysteriöse Vergiftungen in den Mädchenschulen der Stadt im Netz auftauchten, waren die landesweiten Proteste im Iran in vollem Gang. In vielen Schulen gab es Protestaktion mit dem Slogan: "Frau, Leben Freiheit". Der Auslöser der Proteste war der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam. Die iranische Führung wirft Journalisten und "ausländischen Mächten" vor, die Proteste geschürt zu haben. Hinter den Giftanschlägen sollen Israel und die oppositionellen Volksmudschahedin stecken.
Hinweis: Dieser Beitrag vom 3. März wurde aktualisiert. In einer früheren Fassung stand "Giftgasanschläge" statt "mysteriöse Vergiftungen".