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PolitikAsien

Iran: Kein Jubel für die Hamas in der Bevölkerung

18. Oktober 2023

Die Führung des Iran unterstützt die Terrororganisationen Hamas in Gaza und Hisbollah im Libanon. In der Bevölkerung gibt es dagegen auch Solidarität mit den israelischen Zivilisten.

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Ein muslimischer Mann läuft eine Straße entlang und trägt eine palästinensische und eine iranische Flagge
Bild: Sobhan Farajvan/Pacific Press/picture alliance

Der Beschuss eines Krankenhauses in Gaza mit vielen Toten hat weltweit Empörung hervorgerufen und in mehreren muslimischen Ländern heftige Proteste ausgelöst. Auch wenn noch unklar ist, wer für den Angriff verantwortlich ist, die Lage in Nahost könnte nun eskalieren.

So versammelten sich im Iran am frühen Mittwochmorgen hunderte Demonstranten vor der britischen und der französischen Botschaft in Teheran und forderten wegen der Unterstützung Israels den "Tod Englands und Frankreichs", wie ein AFP-Korrespondent berichtete. 

Der iranische Präsident Ebrahim Raisi rief einen Tag der Trauer aus und erklärte laut der iranischen Nachrichtenagentur Irna, dass "die Flammen der US-israelischen Bomben, die heute Abend auf die verletzten Palästinenser im Krankenhaus in Gaza abgeworfen wurden", die "Zionisten (...) verzehren werden". Teheran forderte zudem die arabischen Staaten, die Beziehungen zu Israel unterhalten, auf, diese abzubrechen. 

"Für die breite Bevölkerung sind die Palästinenser und die Hamas nicht gleichzusetzen"

Viele Menschen im Iran verfolgen die Ereignisse mit Besorgnis. Anders als die iranische Führung ziehen die Menschen im Land aber eine Trennlinie zwischen den Interessen der Hamas und denen der Palästinenser. "Für die breite Bevölkerung sind die Palästinenser und die Hamas nicht gleichzusetzen", betont Iran-Experte Ali Afshari, der im Exil in den USA lebt.

Der ehemalige Studentenführer, der in den 1990er-Jahren für Reformen im Iran aktiv war, erläutert weiter, dass viele Iraner trotz ihrer Solidarität mit der Zivilgesellschaft im Gaza wahrscheinlich nicht an den orchestrierten Kundgebungen für die Palästinenser und Hamas teilnehmen würden. Sie seien sich bewusst, dass das iranische System solche Veranstaltungen für seine eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren könnte. 

Bei einer pro-palästinensischen Kundgebung in Teheran halten Männer die palästinensische Flagge in die Höhe
Pro-palästinensische Kundgebung in TeheranBild: Middle East News Agency/ABACA/picture alliance

Im Netz vergleichen viele Iraner den Beschuss des Krankenhauses in Gaza mit dem Abschuss eines Passagierflugzeugs am 8. Januar 2020 durch die iranische Luftabwehr. Die Boeing 737 der Ukraine International Airlines wurde kurz nach dem Start in Teheran abgeschossen. Die meisten Opfer waren iranische Staatsbürger. Der damalige Abschuss ereignete sich in einer Phase massiver außenpolitischer Spannungen zwischen den USA und dem Iran. Das iranische Militär hatte den Abschuss des Passagierflugzeugs zunächst bestritten. Drei Tage später erklärte es jedoch, dass versehentlich eine Rakete auf das Flugzeug abgefeuert worden sei. 

Wut auf die Hamas

Viele Menschen im Iran sind sogar wütend auf die Hamas und ihren Angriff auf Israel. Sie verurteilen den Krieg, der auf Kosten der Zivilbevölkerung in Gaza geführt wird. "Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung lehnt sowohl schiitische als auch sunnitische Fundamentalisten wie die Hamas oder die Hisbollah ab -  hauptsächlich aufgrund ihrer Gegnerschaft zur Islamischen Republik selbst“, sagt Ali Afshar und fügt hinzu: "Diese Gruppen verfolgen die gleiche Politik und benutzen die gleiche Rhetorik wie die Islamische Republik Iran. Die iranische Bevölkerung erlebt seit über 40 Jahren die Konsequenzen dieser Politik und leidet darunter. Im Namen der Religion und unter Berufung auf religiöse Ansprüche werden sie unterdrückt. Es ist verständlich, dass die iranische Bevölkerung eine kritische Haltung gegenüber der Hamas einnimmt, die nicht nur israelische Zivilisten systematisch tötet, sondern auch die Palästinenser im Gazastreifen unterdrückt und ihre Kritiker durch Inhaftierungen, Folter und Hinrichtungen zum Schweigen bringt." 

Irans Außenminister Abdollahian und Hamas-Führer Ismail Hanija sitzen im Gespräch nebeneinander
Irans Außenminister Abdollahian und Hamas-Führer Ismail Hanija haben sich am 15. Oktober in Katar getroffen Bild: Iranian Foreign Ministry/AFP

Die Führung In Teheran unterstützt sowohl die Hamas in Gaza als auch die Hisbollah im Libanon. Seit der Gründung der Islamischen Republik nach der Revolution im Jahr 1979 stellen sich die Machthaber als Schutzmacht unterdrückter Muslime dar, um sich in der islamischen Welt zu profilieren. Trotz 44 Jahren intensiver Propaganda in staatlichen Medien und systematischer Bemühungen, sämtliche Bildungseinrichtungen entsprechend zu beeinflussen - angefangen bei Kindergärten über Schulen und Universitäten bis hin zu Behörden -  findet ihre Ideologie in der Bevölkerung aber nur wenig Unterstützung. 

"Die iranische Nation steht an der Seite der israelischen Bevölkerung", verkündet Fatemeh Sepehri in einem kürzlich veröffentlichten Video. Die 58-jährige Aktivistin, die derzeit im Krankenhaus behandelt wird und Anfang Oktober eine Herzoperation hatte, zählt zu den prominentesten politischen Gefangenen im Iran. In dem am 16. Oktober im Krankenbett aufgenommenen Video betont sie: "Ich verurteile den Angriff der Hamas und die finanzielle Unterstützung von Terrorgruppen durch Gelder, die der iranischen Bevölkerung gehören. Wir Iraner wünschen uns weder Krieg noch die Ermordung unschuldiger Zivilisten." 

Im Februar 2023 wurde Sepehri wegen vermeintlicher "staatsfeindlicher Propaganda" sowie "Kooperation mit feindlichen Staaten" und "Beleidigung des Obersten Führers" Ali Khamenei zu einer Gesamtstrafe von 18 Jahren Haft verurteilt. Sie zählt zu den Dissidenten im Iran, die offen aussprechen, was viele Iraner nur hinter verschlossenen Türen äußern: Nämlich die Ablehnung jeglicher Unterstützung und Beifalls für die gewaltsamen Angriffe der Hamas auf unschuldige Zivilisten. 

Narrativ ohne fruchtbaren Boden

Das Narrativ der Islamischen Republik zu dem vermeintlichen Freiheitskampf der Hamas findet bei vielen Iranern schon lange keine Zustimmung mehr. Zahlreiche Iraner beziehen ihre Informationen über das Internet und die sozialen Netzwerke, wodurch die staatlichen Medien ihre einstige Kontrolle über gezielte Informationen und Bilder längst eingebüßt haben. 

Direkt nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel sprach das staatliche Fernsehen von Siegesfeiern in der Hauptstadt Teheran und im gesamten Land. Kurz darauf versammelten sich mehrere Hundert Menschen, hauptsächlich Männer, um ein Feuerwerk auf dem Palästina-Platz in Teheran zu beobachten. Viele iranische Internetnutzer kommentierten: "Die Basidsch-Milizen, die erst kürzlich unsere Kinder auf den Straßen getötet haben, jubeln nun über die Tötung israelischer Kinder."

Während der landesweiten Proteste gegen das politische System im Iran wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehr als 500 Minderjährige getötet, wovon die meisten Opfer der paramilitärischen Kräfte wurden. Viele der damaligen Protestierenden waren junge Frauen, die ohne das obligatorische Kopftuch in der Öffentlichkeit auftraten. 

Während der Versammlung auf dem Palästina-Platz zeigte das staatliche Fernsehen eine Frau ohne Kopftuch in der Menschenmenge, die ein Foto von Qasem Soleimani in der Hand hielt. Soleimani war der Kommandant der Al-Kuds-Brigaden und für Auslandseinsätze der Revolutionsgarde verantwortlich, bevor er bei einem US-Militäreinsatz im Irak getötet wurde. Diese Frau sollte offenbar belegen, dass verschiedene Gesellschaftsschichten an der Siegesfeier teilnahmen. 

Journalisten im Iran haben in sozialen Medien darauf hingewiesen, dass diese Frau tatsächlich die Schauspielerin Azade Samadi war, die bereits im Frühling wegen Verstoßes gegen die Hijab-Regeln verurteilt wurde. Gemäß dem Urteil ist sie für sechs Monate von jeglichen Aktivitäten in sozialen Netzwerken ausgeschlossen und muss sich aufgrund ihres als "antisozial" eingestuften Verhaltens in Therapie bei einem Psychiater begeben. Viele iranische Nutzer zweifeln daran, dass sie freiwillig an der Versammlung auf dem Palästina-Platz teilgenommen hat. 

Im Internet machen sich viele über die Versammlung von Basidsch-Mitgliedern lustig, die freiwillig nach Gaza reisen wollen, um gegen Israel zu kämpfen. Sie versammelten sich am 16. Oktober vor dem Mehrabad-Flughafen in der Hauptstadt. "Dieser Flughafen hat keine internationalen Flüge", kommentieren viele iranische Internetnutzer humorvoll. "Außerdem liegt er im Stadtzentrum, und eine Versammlung am internationalen Flughafen außerhalb der Stadt wäre zeitaufwändig. Offensichtlich hatten sie darauf keine Lust." Eine andere schreibt: "Nehmt alle, die wie ihr Märtyrer werden wollen, mit und befreit uns von all den Idioten." 

Friedensnobelpreis für Iranerin Narges Mohammadi