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Interview mit Rebecca Harms

Das Interview führte Ali Akinci22. Mai 2004

DW-WORLD im Gespräch mit der Spitzenkandidatin von Bündnis 90 / Die Grünen.

https://p.dw.com/p/553n
Bild: presse


DW-WORLD: Welche politischen Interessen und Ziele vertreten Sie im Europäischen Parlament (EP)?


Harms: Ich habe viele Themen, die mir persönlich sehr am Herzen liegen und für die ich mich als europäische Grüne im EP mit großem Engagement einsetzen werde So bin ich z.B. für die sofortige Abschaffung des EURATOM-Vertrages, der die europaweite Förderung der Atomenergie immer noch vertraglich festschreibt. Wir müssen endlich auch auf europäischer Ebene aus der Atomkraft aussteigen und gleichzeitig die erneuerbaren Energien gezielt fördern. Ich möchte, dass wir gerade auch im Hinblick auf die neuen Mitgliedsländer europaweit in allen Bereichen ein hohes Niveau im Umweltschutz erreichen. Die EU sollte im Bereich des Umweltschutzes, der Energie und Klimapolitik weltweit eine führende Rolle spielen und zum Exporteur von Umweltwissen- und -techniken werden.

Mit unserem Know-how im Umweltschutz und dem Bereich der Erneuerbaren Energien haben wir in Europa und insbesondere in Deutschland den Schlüssel für eine der großen Zukunftstechnologien in der Hand, mit dem wir Umweltverschmutzung weltweit eindämmen und den Klimaschutz voranbringen können. In Europa könnten wir damit auch viele neue Arbeitsplätze schaffen. In Deutschland haben wir die Entwicklung angestoßen und jetzt gilt es dies auch in ganz Europa einzuleiten. Diese Chance müssen wir jetzt nutzen.

Im Bereich der EU-Agrarpolitik müssen wir endlich eine unfassende europäische Agrarwende einleiten, bei gleichzeitiger Reduzierung der Finanzmittel. Die Reformen sollen die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung unterstützen, zu einem gerechteren Weltagrarhandel beitragen und die Position der EU in der WTO stärken. Wir wollen die europäische Agrarpolitik von der Markt- und Preispolitik zu einer Politik für die ländlichen Räume entwickeln.

Mit der Erweiterung der EU bietet sich die großartige Chance die Menschen Europas, die jahrzehntelang voneinander getrennt waren, für eine stärkere politische Union zu gewinnen. Dieses Ziel können wir aber nur dann erreichen, wenn die vom EU-Konvent erarbeitete Verfassung von den Mitgliedstaaten angenommen wird. Ich möchte, dass die EU demokratischer und bürgernaher wird und auch mit 25 und mehr Mitgliedern handlungsfähig bleibt. Daher setzte ich mich mit großer Leidenschaft für die Annahme der EU-Verfassung ein. In den laufenden Beitrittsverhandlungen mit Rumänien und Bulgarien wollen wir Grüne, dass beide Länder alle notwendige Unterstützung erhalten, damit ihr Beitritt zur EU bis 2007 gelingt.

Darüber hinaus setzen wir uns für Beitrittsverhandlungen mit weiteren europäischen Ländern ein, wenn die sog. Kopenhagener Kriterien erfüllt sind. Zu diesen Ländern zählen die Türkei und Kroatien, ebenso wie längerfristig die übrigen Länder Südosteuropas.

Mir ist es auch ein besonderes Anliegen auf eine Stärkung der europäischen Bildungslandschaft hinzuwirken. Denn die Förderung der europäischen Wissensgesellschaft ist der Schlüssel, um das auf dem EU- Gipfel von Lissabon formulierte Ziel der Union zu erreichen, bis 2010 der wettbewerbsfähigste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt zu werden.

Ich will ein Europa, das für Multilateralismus, Abrüstung, Entwicklung, die internationale Herrschaft des Rechts und die Stärkung der Vereinten Nationen eintritt. Im Mittelpunkt der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik muss eine zivile Außenpolitik stehen, die sich an den Zielen des Friedens und der Demokratie, der Verwirklichung der Menschenrechte und eines ökologisch und sozial gerechten Interessenausgleichs zwischen den Weltregionen ausrichtet. Ich möchte keine militärische Supermacht Europa, aber die EU- Mitgliedstaaten sollten alles dafür tun, damit die EU eine starke und verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik betreiben kann.

Ob Atomausstieg, Umweltschutz, nachhaltige Landwirtschaft, Verfassung, Innen- oder Außenpolitik: Solch ehrgeizige Ziele lassen sich nur erreichen, wenn wir in Europa über nationale Grenzen hinweg handeln. Es gilt die noch vorhandenen nationalen Egoismen in Europa endlich zu überwinden und eine Europapolitik im wahrsten Sinne des Wortes zu machen.

Für die meisten Bürgerinnen und Bürger ist die Europäische Union (EU) mehr oder weniger ein abstraktes Gebilde. Wie versuchen Sie, den Bürgern EU-Politik näher zu bringen?

Ich versuche gerade diejenigen Menschen von der Bedeutung der EU zu überzeugen, die ihr noch kritisch gegenüberstehen. Ich weise dann immer darauf hin, dass bei all den existierenden Problemen im heutigen Europa nicht vergessen werden darf, dass die Europäische Union das größte und erfolgreichste Friedensprojekt unserer Zeit ist, dessen Nutzen nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Mit der Erweiterung wird dieser Friedensraum größer. Es werden endlich die europäischen Völker vereint, die der Kalte Krieg viele Jahrzehnte lang trennte.

Frieden und Stabilität haben einen Wert an sich, wenn man bedenkt, dass die Europäische Union bis zum Jahre 2006 pro Kopf mehr zur Auf­rechterhaltung eines fragilen Waffenstillstands auf dem Balkan wird aufbringen müssen als für die Unterstützung der nachholenden Entwicklung der künftigen Mitgliedstaa­ten. Mich freut, dass der überwiegende Teil unserer BürgerInnen um die Bedeutung der EU weiß und die Erweiterung begrüßt. Damit das auch so bleibt bzw. wir die Zustimmung und das Vertrauen in die Europäische Union weiter stärken, muss sich die Politik noch stärker als bisher den Sorgen und Problemen ihrer BürgerInnen annehmen.

Dabei ist die vom Konvent erarbeitete Verfassung von zentraler Bedeutung, denn sie ordnet die bisherigen EG/EU- Verträge neu und macht die Europäische Union insgesamt demokratischer, effizienter und transparenter und verbessert zudem den Grundrechtsschutz für die BürgerInnen Europas. Die Verfassung allein reicht natürlich nicht aus. Es wird die Aufgabe von allen Europäerinnen und Europäern sein, diese Verfassung mit leben zu füllen. Wir PolitikerInnen werden uns in besonderem Maße daran messen lassen müssen.

Abgeordnete des EP und deren Entscheidungen werden in der Öffentlichkeit längst nicht so intensiv wahrgenommen, wie ihre Kollegen in den nationalen Parlamenten. Woran liegt das? Und: Worin unterscheidet sich das EP im Vergleich zu nationalen Parlamenten?

Leider ist es in den meisten Mitgliedstaaten immer noch so, dass das Europäische Parlament und die europäischen Politiker nicht die öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, die ihnen (von der Bedeutung) zusteht. Schließlich ist das EP die seit 1979 direkt gewählte demokratische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger der EU. Das EP ist heute beim größten Teil der EU-Gesetzgebung gleichberechtigt mit dem Ministerrat und kann somit über viele Dinge entscheiden, die sich direkt auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger auswirkt. Zwar werden die nationalen Parlamente weiterhin große Bedeutung besitzen, doch mit der EU-Verfassung werden die Rechte des EP zusätzlich ausgeweitet und das EP wird weiter an Bedeutung gewinnen. Wir als Grüne kämpfen für eine Stärkung des EP und wollen mehr direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger- bis hin zu europaweiten Bürgerentscheiden.

Wir brauchen ein Europa, das in seinen Entscheidungen und Zuständigkeiten für die Menschen nachvollziehbar ist und sich zu einem gemeinsamen Lebens- und Erfahrungsraum entwickelt. Wenn uns das gelingt, dann wird die EU, das EP und ihre Politiker auch in der europäischen Öffentlichkeit eine große Rolle spielen.


Ein Grund, warum bis heute das EP in der Öffentlichkeit nicht so intensiv wahrgenommen wird, wie die nationalen Parlamente hat mehrere Gründe. Zum einen wird Politik in den Mitgliedstaaten noch viel zu wenig aus europäischer Perspektive heraus gemacht und in den Wahlen zum EP wird leider immer noch anstatt der europäischen gerne die nationale Karte gespielt. Zum anderen berichten meines Erachtens auch die Medien insgesamt immer noch viel zu wenig über die Situation in Gesamteuropa. Erst in den letzten Monaten, insbesondere durch die EU-Erweiterung hat sich dies ein wenig zum Positiven geändert.


Wir als Grüne haben mit der Gründung der Europäischen Grünen Partei hier ein deutliches Signal für die Bedeutung Europas gesetzt. Als Europäische Grüne Partei machen wir als einzige Partei einen gemeinsamen EP-Wahlkampf und tragen so auch zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit bei.

Kritiker befürchten, die Union werde durch die Aufnahme der neuen Mitglieder zu einem aufgeblähten und unbeweglichem Koloss. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie bezüglich künftiger Entscheidungsprozesse in der EU?

Um diesen Prozess der europäischen Integration erfolgreich weiterzuführen, bedarf es jetzt weiterer Schritte. Absolute Priorität muss es jetzt sein, der erweiterten EU eine gemeinsame Verfassung zu geben. Denn die EU- Verfassung bildet die Grundlage für eine starke und handlungsfähige EU25. Mit ihr wird das gesamte EU/EG-Vertragssystem an die Bedingungen einer größeren Gemeinschaft angeglichen. Vor allem im Bereich der Entscheidungsstrukturen sieht die Verfassung wichtige Neuerungen vor. So können Ratentscheidungen künftig in der Regel mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden. Damit könnte die EU deutlich schneller Beschlüsse fassen und umsetzen.

Eine die EU bis heute lähmende Blockadepolitik durch ein Mitgliedsland wird nach der neuen Verfassung erschwert. Mit einer Einigung würde bewiesen, dass der Widerspruch zwischen Erweiterung und Vertiefung nur ein scheinbarer ist und alle Mitgliedstaaten dem Konzept der europäischen Integration verpflichtet sind. In einer

Verantwortungsgemeinschaft zwischen den Altmitgliedern und den neuen Mitgliedstaaten muss dafür Sorge getragen werden, dass die Integration zum Nutzen aller Europäerinnen und Europäer gelingt und die Nachbarn im Osten Europas gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern der bisherigen Europäischen Union am Gedeihen des europäi­schen Kontinents teilhaben können. Die erweiterte EU mit einer eigenen Verfassung bietet die besten Voraussetzungen für weitere Integrationsschritte in allen Bereichen und einer damit verbundenen "tieferen" politischen Union.

Welche Wünsche und Visionen haben Sie für eine zukünftige EU?

Es gilt jetzt das Projekt Europa in eine neue Phase zu führen und dafür brauchen wir die EU-Verfassung. Wir sollten alles dafür tun, den europäischen Integrationsprozess weiterzuführen und mit der EU- Verfassung haben wir die entsprechende Grundlage dafür. Mit der Verfassung können wir die EU als politische Union nicht nur festigen, wir können sie weiter vertiefen. Dafür brauchen wir kein Kerneuropa, welches im Übrigen die europäischen Völker nur wieder spalten würde. Nein, Europa braucht mehr Menschen, mehr Politiker, die "europäisch" denken und handeln. Dafür müssen die BürgerInnen Europas viel stärker an der EU-Politik beteiligt werden. Für mich ist es daher auch besonders wichtig, den Einfluss der Zivilgesellschaft insgesamt, der Bürgerbewegungen, der Verbände und Initiativen auf die europäische Politik zu stärken.

Ich habe die Vision, dass sich dann schon bald eine wirkliche europäische Öffentlichkeit herausbilden wird, die dafür sorgt, dass überholte nationale Denkweisen mehr und mehr aus den Köpfen vieler Europäer verschwinden. Wenn wir Europäer also unserer gemeinsamen Verantwortung für das Europa von heute und der Zukunft gerecht werden, unsere Kräfte noch stärker als bisher bündeln und das europäische Interesse in den Vordergrund der gemeinsamen Politik stellen, ist mir um Europa nicht bange.