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PolitikNahost

Interpol: Vorwürfe gegen Kandidaten aus den VAE

16. November 2021

In wenigen Tagen soll der neue Interpol-Chef gewählt werden. Ein Kandidat ist Generalmajor Al-Raisi aus den Arabischen Emiraten. Doch gegen die Personalie gibt es Protest von Aktivisten und Politikern - auch aus Berlin.

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Bild: Getty Images/AFP/R. Rahman

Sie sind beunruhigt: Die drei Bundestagsabgeordneten Kai Gehring (Grüne), Peter Heidt (FDP) und Frank Schwabe (SPD) haben eine gemeinsame Erklärung verfasst. Darin äußern die Parlamentarier - allesamt Abgeordnete aus Parteien der voraussichtlich künftigen deutschen Regierungskoalition - ihre Sorge angesichts der Kandidatur des Generalmajors Ahmed Nasser Al-Raisi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) für die Präsidentschaft der Internationalen Polizeiorganisation (Interpol). Sie haben grundlegende menschenrechtliche Bedenken gegen den Kandidaten aus Abu Dhabi. Die Wahl soll nach derzeitigem Stand auf der Interpol-Generalversammlung vom 23. bis 25. November 2021 in Istanbul stattfinden. Würde Al-Raisi gewählt, wäre er Nachfolger des seit 2018 amtierenden Südkoreaners Kim Jong-yang.

Käme es zur Wahl von Al-Raisi, befürchten die drei Bundestagsabgeordneten schwerwiegende Folgen für die Rechtskultur von Interpol: "Angesichts der verheerenden Menschenrechtsbilanz der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), würde die Ernennung von Herrn Al-Raisi zum Präsidenten in eklatantem Widerspruch zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Auftrag  der Organisation stehen", so die drei Bundestagsabgeordneten. "Das würde nicht zuletzt das internationale Ansehen von Interpol gefährden."

Auch international gibt es Bedenken: Ende Oktober hatte bereits Human Rights Watch zusammen mit 18 weiteren Menschenrechtsgruppen Sorgen über Al-Raisis Kandidatur geäußert. In Frankreich forderten 35 französische Abgeordnete Präsident Emmanuel Macron auf, sich der Kandidatur Al-Raisis zu widersetzen.

"Direkt in mehrere Fälle verwickelt"

Die deutschen Bundestagsabgeordneten werfen dem Major vor, er sei "direkt in Menschenrechtsverletzungen in einer Reihe von hochkarätigen Fällen verwickelt". Zudem sehen sie in dem 2005 zum emiratischen Generaldirektor für "Zentrale Operation" und 2015 zum Generalinspektor des Innenministeriums ernannten Major einen aktiven Repräsentanten eines autoritären Systems. "Als staatlicher Vertreter der VAE ist Herr Al-Raisi Teil eines Sicherheitsapparates, der systematisch gegen friedliche Andersdenkende vorgeht", so die drei Abgeordneten.

In ihrer Stellungsnahme heißt es darüber hinaus: Bürgerliche und politische Rechte seien in den VAE stark eingeschränkt und Dissidenten, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger harten Repressalien ausgesetzt, häufig unter Anwendung drakonischer Anti-Terror-Gesetze. Zu den Vergehen gehörten auch gewaltsames Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Verhaftungen. 

Twitter Screenshot Interpol Account über Generalmajor Ahmed Nasser Al-Raisi
Umstrittener Kandidat: Generalmajor Al-Raisi, hier ein Foto von 2018 auf dem Twitter-Account von Interpol, nach seiner Wahl zum Asien-Vertreter im Exekutiv-Komitee der OrganisationBild: Interpol/Twitter

VAE weisen Vorwürfe zurück

Die VAE weisen solche Vorwürfe kategorisch zurück. "Als derzeitiges Mitglied des Exekutivkomitees von Interpol ist Generalmajor Al-Raisi ein hervorragender Fachmann mit einer 40-jährigen Erfahrung in der kommunalen und nationalen Polizeiarbeit", heißt es in einer Stellungnahme der VAE-Botschaft in Deutschland gegenüber der DW. "Als Präsident von Interpol wird er sich weiterhin für den Schutz der Menschen einsetzen, die Sicherheit in den Gemeinden erhöhen und den Strafverfolgungsbehörden weltweit die neuesten Instrumente im Kampf gegen ausgeklügelte kriminelle Netzwerke zur Verfügung stellen."

Die VAE seien stolz darauf, eines der sichersten Länder der Welt zu sein, wird in der Stellungnahme betont. "Die VAE sind zudem die fortschrittlichste Kraft für positive Veränderungen in der schwierigsten Region der Welt", heißt es weiter. Und: "Als gewähltes Mitglied des UN-Menschenrechtsrats legen die VAE den Schwerpunkt auf den Schutz der Menschenrechte im In- und Ausland, einschließlich der Förderung der Selbstbestimmung von Frauen, der religiösen Koexistenz und der Akzeptanz von Menschen mit einer bestimmten Einstellung."

Klagen ehemaliger Inhaftierter

Widerstand oder zumindest Kritik an der Kandidatur al-Raisis kommt nicht nur von Politikern und Menschenrechtlern, sondern auch von ehemals in den VAE inhaftierten Ausländern - wie etwa dem britischen Politologen und Sicherheitsexperten Matthew Hedges. Im Mai 2018 wurde Hedges nach einem zweiwöchigen Forschungsaufenthalt - er hatte dort nach eigener Darstellung für seine Doktorarbeit mehrere Interviews geführt - am Flughafen von Dubai verhaftet. Die Behörden beschuldigten ihn der Spionage für das britische Königreich. Im November des Jahres wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, einige Tage später aber begnadigt. Im Mai 2021 erhob Hedges schließlich Klage gegen vier Vertreter der emiratischen Behörden, die mit seiner Verhaftung und den Haftbedingungen in Verbindung gestanden hätten - unter ihnen auch Generalmajor Al-Raisi.

Er sei physisch eingeschüchtert und bedroht worden, sagt Hedges im Interview mit der DW. "Man sagte mir, niemand wisse, wo ich sei, und das ich keinerlei Wahl hätte", so Hedges weiter. Seine Wächter hätten ihn vom Schlaf abgehalten. Er habe Panikattacken erlitten, worauf seine Wächter ihm gegen seinen Willen das Betäubungsmittel Ritalin in Kombination mit Beruhigungsmedikamenten verabreicht hätten. Schließlich habe er sich mit Selbstmordgedanken getragen: "All das war kein bloß inakzeptables Verhalten - es war systematischer Machtmissbrauch!"

Dass Generalmajor Al-Raisi zum Präsidenten von Interpol gewählt werden könnte, ist für Hedges ein Skandal: "Er ist für Folter verantwortlich. Wie kann ein solcher Mann einer der weltweit führenden Polizisten werden?! Das ist lächerlich!"

Frankreich Lyon | Interpol Hauptquartiert
Das Interpol-Hauptquartier in LyonBild: Laurent Cirpiani/AP Photo/picture alliance

Auch ein weiterer britischer Staatsbürger, Ali Issa Ahmad, berichtete der DW über seine Haftzeit in den VAE. Ahmad war im Januar 2019 zur Fußball-Asienmeisterschaft in die VAE gereist. Beim Spiel Katar gegen Irak am 22. Januar trug er ein Shirt der katarischen Mannschaft. Das Emirat galt nach einem von Saudi-Arabien initiierten, inzwischen beendeten Boykott damals jedoch praktisch als politischer Feind der VAE. Mitarbeiter der VAE-Sicherheitsbehörden nahmen Ahmad das T-Shirt ab. Am nächsten Tag trug er am Strand nochmals ein T-Shirt der katarischen Elf. Er habe nicht gewusst, dass das verboten sei, beteuert Ahmad.

Während der Verhaftung und des Transports sei er geschlagen worden, berichtet Ahmad im DW-Gespräch. Auch habe man ihm zeitweilig eine Plastiktüte über den Kopf gezogen. Während der Haft habe man ihn zudem am Schlafen gehindert.

Unabhängig überprüfen lasst sich das nicht. Aber es deckt sich mit ähnlichen Berichten von international tätigen Menschenrechtsgruppen. Auch Ali Issa Ahmad hat eine Klage gegen sechs Vertreter der VAE-Sicherheitsbehörden eingereicht - unter ihnen Generalmajor Ahmed Nasser al-Raisi. "Als ich hörte, dass er womöglich Präsident von Interpol werden könnte, war ich schockiert", so Ahmad.

Missbrauch von Fahndungsaufrufen?

Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Kai Gehring ist überzeugt: "Ein repressiver Staat, der elementare Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien dermaßen missachtet, sollte keinen derartigen Einfluss auf die wichtigste internationale Polizeiorganisation bekommen," so Gehring gegenüber der DW. Besonders kritisch sehe er den möglichen Einsatz internationaler Fahndungsaufrufe, sogenannter "Red Notices", durch den Sicherheitsapparat der VAE. Diese könnten missbraucht werden, um politische Gegner festzunehmen zu lassen.

Zu diesen zählt etwa der in den VAE seit Jahren in Haft sitzende Aktivist und Blogger Ahmed Mansoor. Sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch werfen den VAE einen gegen die Menschenrechtsnormen verstoßenden Umgang mit Mansoor  vor. Die Menschenrechtsorganisation "Gulf Center for Human Rights" hat Al-Raisi deshalb vor einem französischen Gericht angeklagt. Sie bezichtigt ihn, für die Folterung Ahmed Mansoors verantwortlich zu sein. 

Vereinigten Arabischen Emirate Ahmed Mansour Menschenrechtsaktivist
Inhaftiert: Der Aktivist und Blogger Ahmed MansoorBild: AFP/Getty Images/K. Sahib

Demgegenüber verweisen die VAE über ihre Botschaft auf ihre bisherige Bilanz als Interpol-Mitglied seit 1973: "Das Land kann eine hervorragende Erfolgsbilanz vorweisen, wenn es darum geht, in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern kriminelle Netzwerke zu zerschlagen und flüchtige Personen vor Gericht zu stellen", so die Botschaft in ihrer Stellungnahme gegenüber der DW. Und weiter: Zwischen 2018 und 2021 hätten die VAE insgesamt 516 gesuchte Gesetzesbrecher wegen Straftaten im Zusammenhang mit kriminellen Vereinigungen, Diebstahl, Betrug, Geldwäsche, Terrorismus und anderen Straftaten festgenommen und ausgeliefert. 

Menschenrechtsfragen werden hier im direkten Zusammenhang gar nicht erwähnt.

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika