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Politik

Wie der Hindu-Nationalismus Indien verändert

Murali Krishnan Neu Delhi
15. August 2022

Indien wandelt sich allmählich von einer säkularen, multikulturellen Nation zu einem hinduistisch geprägten Staat, sagen Aktivisten und Minderheitengruppen. Religiöse Minderheiten haben es immer schwerer.

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Indien: Symbolbild nationalistische Hindus
Anhänger einer Hindu-Organisation am Dasna Devi-Tempel 2021: Spannungen zwischen Hindus und Muslimen nehmen zu Bild: Hindustan Times/imago images

Als Indien 1947 von Großbritannien unabhängig wurde, wollten die Gründerväter die neue freie Nation als säkularen multikulturellen Staat aufbauen. In den folgenden 75 Jahren hat sich das südasiatische Land von einer armen Nation zu einer der am schnellst wachsenden Volkswirtschaften der Welt entwickelt - und zu einem demokratischen Gegengewicht zum autoritären Nachbarn China. Indien hat seit seiner Unabhängigkeit freie Wahlen abgehalten und einen friedlichen Machtwechsel erlebt, das Land verfügt über eine unabhängige Justiz und eine lebendige Medienlandschaft.

Kritiker sind jedoch der Meinung, dass unter der seit 2014 amtierenden Regierung von Premierminister Narendra Modi der säkulare Charakter des Landes ins Hintertreffen geraten ist. Das bestimmende Credo von Modis Bharatiya Janata Partei (BJP) ist seit 1989 "Hindutva", eine politische Ideologie, die die Werte der Hindu-Religion als Eckpfeiler der indischen Gesellschaft und Kultur propagiert.

Hindu-Nationalismus auf dem Vormarsch

Das Modi-Regime wolle in Kultur und Verwaltung Veränderungen vornehmen, die Indien von einer "säkularen demokratischen Republik in eine autoritäre hinduistisch-suprematistische Republik" verwandeln sollen, sagt Kavita Krishnan von der Frauenrechtsgruppe All India Progressive Women's Association gegenüber der DW. "Deshalb bevorzuge ich den Begriff Hindu Supremacy [zu deutsch: Hindu-Vorherrschaft, Anmerk. d. Red.], um Modis Politik zu beschreiben", so Krishnan.

Hindus stellen die überwältigende Mehrheit der 1,4 Milliarden Einwohner Indiens. In den vergangenen Jahren wurden die Forderungen rechtsgerichteter religiöser Gruppen laut, Indien zu einer Hindu-Nation zu erklären und die Vorherrschaft der Hindus gesetzlich zu verankern.

Diese Forderungen haben die religiösen Minderheiten, insbesondere die Muslime, von ihrem Land entfremdet, sagen Kritiker. Die aggressive Hindutva-Politik der BJP behandle religiöse Minderheiten zudem als "Bürger zweiter Klasse". Hassreden und Gewalt gegen die 210 Millionen Muslime des Landes hätten in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

Polizeigewalt bei Demos

Einige Beispiele: Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2019 (Citizenship Amendment Act, CAA) ebnet den Weg für Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jainisten, Parsen und Christen aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch, die vor 2015 nach Indien eingewandert sind, im Schnellverfahren die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Für Muslime gilt dieses Schnellverfahren jedoch nicht.

Im Jahr 2020 kam es in mehrheitlich muslimischen Vierteln Delhis zu gewalttätigen Ausschreitungen. Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sei die Polizei nicht eingeschritten, als Regierungsanhänger Demonstranten angriffen. Gleichzeitig habe sie die Demonstrationen der Gegner schnell aufgelöst, mitunter auch höchst brutal.

Auch im Juni 2022 kommt es in Neu Delhi zu Protesten gegen die Verfolgung von Muslimen
Auch im Juni 2022 kommt es in Neu Delhi zu Protesten gegen die Verfolgung von Muslimen Bild: Manish Swarup/AP/picture alliance

Auch das Verbot des islamischen Kopftuchs (Hijab) in Schulen und Hochschulen in einem Bundesstaat hat in jüngster Zeit zu Spannungen und Protesten zwischen Hindus und Muslimen in Südindien geführt.

Einige von der BJP regierte Bundesstaaten haben Bulldozer eingesetzt, um die Häuser und Geschäfte mutmaßlicher muslimischer Demonstranten zu zerstören, was als eine Form der kollektiven Bestrafung verurteilt wird. Hindugruppen haben auch Anspruch auf eine Reihe von islamischen Stätten erhoben, die ihrer Meinung nach während der muslimischen Herrschaft auf Tempeln errichtet wurden.

BJP bestreitet religiöse Diskriminierung

Saira Shah Halim, eine Schriftstellerin und Aktivistin, erklärt gegenüber der DW, dass die alte liberale Ordnung angesichts des aufkommenden ethnischen Nationalismus ins Wanken gerate. Dies untergrabe Indiens Ansehen als größte Demokratie der Welt und lasse Zweifel an seiner Zukunft als säkularer Staat aufkommen.

"Hindu-Nationalismus sollte nicht mit dem Hass auf Mitbürger aus der Minderheitengemeinschaft einhergehen. Dieser Hass wird von den Behörden gefördert und ungestraft ausgeübt, wo die Unterdrückung der Muslime so allgegenwärtig geworden ist", sagte Saira Sha Halim.

Gandhis Vermächtnis - Wohin steuert Indien? - Teil 1

Die BJP hat jedoch stets bestritten, dass sie Muslime diskriminiert. Shazia Ilmi, eine Sprecherin der Partei, erklärt dazu gegenüber der DW: "Indien ist die Heimat vielfältiger Kulturen, in der Menschen verschiedener Glaubensrichtungen in Harmonie leben. Indien hat die moralische und spirituelle Autorität, die Welt auf den Weg des Friedens zu führen."

Die BJP argumentiert, dass die oppositionelle Kongresspartei, die Indien nach der Unabhängigkeit mehr als fünf Jahrzehnte lang regierte, für die Aushöhlung des Säkularismus im Land verantwortlich sei. Sie sei angeblich extremistischen Elementen verschiedener Religionsgemeinschaften entgegen gekommen.

Wachsende Spaltung und Misstrauen

Nicht nur auf politischer, sondern auch auf persönlicher Ebene haben sich die Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen verschlechtert. Qurban Ali, ein Ingenieur in der Stadt Kanpur im Bundesstaat Uttar Pradesh, erzählt, dass sich die Hindus in seinem Ort jedes Jahr während des islamischen Festes Eid al-Fitr in seinem Haus versammelten, um gemeinsam zu feiern und zu essen - eine Tradition, die sie seit Jahren pflegen. "Aber dieses Mal kam kein Hindu, um uns zu begrüßen", sagte Ali. "Es war seltsam, wo sie doch jedes Jahr ein wichtiger Teil der Feierlichkeiten waren. Das Leben in diesem Land hat sich verändert."

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Hasan Suroor, Autor des kürzlich erschienenen Buches "Unmasking Indian Secularism" (zu Deutsch: Die Entlarvung des indischen Säkularismus, Anmerk. d. Red.), erklärt, dass dringend ein neuer Fahrplan zur Wiederherstellung der Harmonie zwischen den Gemeinschaften erforderlich sei, bevor es für eine Kurskorrektur zu spät sei.

"Die Vorstellung, dass die Hindus den ersten Anspruch auf Indien haben, ist tief verwurzelt, selbst bei vielen Liberalen", so Suroor im Gespräch mit der DW. Jede nachhaltige Lösung erfordere die Anerkennung der faktischen "Hinduisierung" Indiens in den letzten zehn Jahren.

"Dies ist kein Plädoyer dafür, den Säkularismus gänzlich aufzugeben oder plötzlich einen theokratischen Hindu-Staat anzunehmen", sagt Suroor, "sondern nach einem Modell zu suchen, das mit den heutigen politischen und sozialen Realitäten in Einklang steht."

Suroor sagt, eine neue Vereinbarung, die eher von Realismus als von Idealismus geprägt sei, würde bedeuten, das richtige Gleichgewicht zwischen Minderheitenrechten und den Empfindlichkeiten der Mehrheitsbevölkerung zu finden.

Aus dem Englischen adaptiert von Stephanie Höppner.