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PolitikAsien

Indien: Aufstrebendes Land, hungernde Kinder?

19. Oktober 2022

Im Kampf gegen Armut und Hunger hat die Wirtschaftsmacht Indien große Erfolge erzielt. Doch im Welthunger-Index schneidet das Land schlecht ab. Das sorgt für Aufregung.

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Indien | Mittagessen für Schulkinder
Schulkinder in Hyderabad warten auf ihr MittagessenBild: Noah Seelam/AFP/Getty Images

Ein Teller mit Reis, Linsen und etwas Gemüse. Solch eine warme Mahlzeit erhalten in Indien nach Angaben der Regierung jeden Mittag fast 120 Millionen Schulkinder. Seit dem Jahr 2001 muss jede staatliche Schule im Land das "Midday Meal" kostenfrei anbieten.

"Die Regierung führt das weltweit größte Programm zur Ernährungssicherung durch", schreibt das indische Ministerium für Frauen und Kinder in einer Pressemitteilung vom 15. Oktober. Und verweist auf weitere staatliche Hilfen wie die monatliche Verteilung von Getreidesäcken an besonders arme Familien im Land.

Jahr für Jahr mehr Kalorien

Durch die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion sei die Pro-Kopf-Versorgung der Inder mit Kalorien zudem von Jahr zu Jahr gestiegen, so das Ministerium weiter. "Es gibt absolut keinen Grund, warum die Unterernährung im Lande zugenommen haben sollte."

Indien Kaschmir | Schulkinder beim Verzehr der Mittagsmahlzeit
Mahlzeit am Mittag: Schulspeisung in einer staatlichen Schule in SrinagarBild: Faisal Khan/AA/picture alliance

Die indische Regierung reagiert damit auf den Welthunger-Index 2022, der die Ernährungslage in Indien mit einem Wert von 29,1 als "ernst" einstuft. Das Land fällt im Ranking nach unten und landet auf Platz 107 von 121 Ländern. Dass die aufstrebende Wirtschaftsmacht noch hinter ihren Nachbarn Pakistan und Bangladesch liegt, sorgt im Land für viel Aufregung. Besonders die hindunationalistische Regierungspartei BJP von Premierminister Narendra Modi sieht darin einen westlichen Angriff auf das Prestige des Landes. "Wieder einmal wird versucht, Indiens Ruf zu schädigen", heißt es aus dem Ministerium für Frauen und Kinder. Der Index nutze ein falsches Maß für den Hunger und leide unter schwerwiegenden methodischen Problemen.

Hunger – ein komplexes Problem

"Es gibt natürlich verschiedene Arten, wie man Hunger messen kann", sagt dazu Laura Reiner von der Welthungerhilfe in Deutschland. Die aus staatlichen und privaten Mitteln finanzierte Hilfsorganisation veröffentlicht jährlich gemeinsam mit der irischen Nichtregierungsorganisation Concern Worldwide den Welthunger-Index. "Uns ist wichtig, das Problem des Hungers in seiner Komplexität zu messen", sagt Reiner der DW.

Dazu kombiniere man vier Indikatoren. Zum einen den Wert der Welternährungsorganisation FAO zur Unterernährung. Dieser misst, ob der Bevölkerung genug Kalorien zur Verfügung stehen. "Aber diese Kalorien können auch in irgendwelchen Lagerhallen sein und nicht bei den Menschen ankommen", so Reiner. 

Mangel in der Kindheit hat langfristige Folgen

Zudem führe auch der Mangel an Proteinen und lebenswichtigen Mineralstoffen zu gesundheitlichen Problemen. Um ein umfassenderes Bild zu erhalten, betrachte man deshalb zusätzlich, wie viele Kinder in einem Land in ihrem Längenwachstum verzögert sind oder für ihre Größe zu wenig Gewicht auf die Waage bringen – Auszehrung genannt. Diese Daten wurden von indischen Behörden erhoben. Zuletzt fließen noch Daten zur Kindersterblichkeit in den Welthunger-Index ein.

"Es gibt Studien, die Jahrzehnte zurückreichen und in Expertenkreisen sehr anerkannt sind, die zeigen, dass die Daten zur Unterernährung und Sterblichkeit von Kindern äußerst empfindliche Indikatoren dafür sind, wie es um die Ernährung der gesamten Bevölkerung bestellt ist", erklärt Reiner. "Wenn es um Unterernährung geht, ist es außerdem sehr sinnvoll, Kinder zu beobachten, denn eine Unterernährung, die in der Kindheit beginnt, lässt sich im Erwachsenenalter nur sehr schwer wieder umkehren." Die Langzeitfolgen seien gravierend, sowohl für den einzelnen als auch die Gesellschaft.

Jedes fünfte Kind wiegt zu wenig

Es sei weder wissenschaftlich noch vernünftig, Hunger vor allem mit Indikatoren zu messen, die sich auf die Gesundheit von Kindern bezögen, meint dagegen das indische Ministerium für Frauen und Kinder. Kindersterblichkeit, Auszehrung und Wachstumsverzögerung seien nicht nur dem Hunger geschuldet, sondern "Ergebnis komplexer Wechselwirkungen verschiedener anderer Faktoren wie Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen, Genetik, Umwelt".

Laura Reiner
Laura Reiner von der WelthungerhilfeBild: Welthungerhilfe

Fast jedes fünfte Kind in Indien leidet laut Welthunger-Index unter Auszehrung, wiegt also zu wenig für seine Größe. Das ist die schlechteste Quote aller untersuchten Länder. "Zurückführen kann man das unter anderem auf die schlechte Stellung der Frauen in Indien", sagt Reiner. "Je besser die Stellung der Frau ist, umso besser ist die Ernährungssituation der Kinder in den ersten fünf Jahren." 

Hunger muss nicht sein

Die Quote von Erwachsenen, die unterernährt sind, sei in Indien dagegen nicht besonders hoch. Das Land habe seit dem Jahr 2000 bedeutende Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers erzielt. "Aber Indien hat nun mal dieses riesengroße Problem, dass so viele Kinder an Hunger und Unterernährung im Sinne der Mangelernährung leiden", sagt Reiner. 

In Indien selbst scheint die Diskussion um den Welthunger-Index vor allem parteipolitisch geführt zu werden. Oppositionspolitiker Rahul Gandhi schrieb auf Twitter, die Regierungspartei schwäche Indien, indem sie die Öffentlichkeit täusche. 

Indien gilt als aufstrebende, geostrategisch wichtige Nation. In einzelnen Feldern wie etwa der Digitalisierung ist das Land ein Vorreiter. Und als wichtiger Nahrungsproduzent versorgt Indien auch viele andere Länder. "Aber egal, wie sehr ein Land auch aufstrebt, es darf niemanden zurücklassen", sagt Reiner. "Schon gar nicht diejenigen, die am verletzlichsten sind. Und das sind hungernde Kinder." Eine wirklich gute Entwicklung mache ein Land nur, wenn es niemanden zurücklasse. Für Indien könnte das bedeuten, noch besser dafür zu sorgen, dass auch die Kleinsten ausreichend mit allen wichtigen Nährstoffen versorgt werden. Mit den richtigen politischen Prioritäten sei der Hunger ein lösbares Problem – in Indien und in der ganzen Welt

  

Gandhis Vermächtnis - Wohin steuert Indien? - Teil 1