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Gesellschaft

"Legebatterie": Prostitution in Deutschland

Naomi Conrad | Esther Felden
21. Juni 2018

Gewalt, Drogen, Panikattacken - schon für 30 Euro verkaufen Frauen in Deutschland ihren Körper an Freier. Den großen Profit machen andere. Eine Aussteigerin berichtet.

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Symbolbild Prostitution
Bild: picture-alliance/dpa

In einer ganz normalen Nacht nahm sie zehn oder zwölf, manchmal auch vierzehn Männer mit ins Zimmer. Bis drei Uhr morgens habe sie ausgehalten, länger nicht, erzählt die Frau, die sich von den Freiern Julia nennen ließ. Andere Frauen aber hätten sich mit Alkohol und Drogen - oft Kokain, auch mal Marihuana - benebelt, um die ganze Nacht und auch die Extrawünsche durchzustehen.

Überprüfen kann die Deutsche Welle die Geschichte der Frau nicht, aber sie deckt sich mit den Schilderungen von Sozialarbeiterinnen und Polizisten, die das Rotlichtmilieu in Deutschland kennen. Außerdem hat Julia der DW Bilder von ihrer Zeit als Prostituierte gezeigt, publizieren will sie die Fotos ebensowenig wie ihren richtigen Namen.

Zehn Jahre lang hat die heute 30-jährige Rumänin ihren Körper verkauft, mal auf dem Straßenstrich, dann in privaten Wohnungen, in Bordellen und Bars in der Schweiz, Frankreich, Griechenland und zuletzt in Deutschland. Bis zum 10. März, das Datum weiß sie noch ganz genau: "Der Kunde hat mir 100 Euro für die Stunde gegeben, ganz normal, und dann war's das."

Dann ist sie ausgestiegen, ausgestiegen aus der Prostitution, der endlosen Sorge, genug Freier zu finden für die Miete im Bordell. 130 Euro musste sie jeden Abend bezahlen für das Zimmer, in dem sie auch wohnte. 130 Euro wurden kassiert, egal wie es ihr ging oder wie der Tag war, knapp 4000 Euro im Monat. Mit dem Ausstieg ließ sie auch die langen Nächte und kurze Tage hinter sich, das immer aufgesetzte Lächeln, die gespielt gute Laune. Als sie sich mit Anfang 20 für für dieses Leben entschied, ahnte sie, dass es nicht einfach werden würde. Tatsächlich war es noch weit schwieriger, als sie es sich ausgemalt hatte.

Deutschland Reeperbahn St. Pauli Hamburg
Wolfgang Fink vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg: "Die Preise sind in den Keller gegangen"Bild: picture-alliance/dpa/B. Marks

Panikattacken und kein Geld zum Zurücklegen

Auf alten, etwas unscharfen Bildern auf ihrem Handy räkelt sich eine Frau mit hochhackigen Schuhen und knappem Bikini auf einem grell beleuchteten Gang. Sie zieht einen Schmollmund für die Kamera, die Haare sind hellblond gefärbt. Warum sie die Bilder behalten hat, weiß Julia nicht genau. "Da war ich noch jung", sagt sie, fast entschuldigend. Sie habe sich für die Prostitution entschieden, "weil ich meinen Kindern ein besseres Leben geben wollte". Ihren ersten Sohn hatte sie mit 14 bekommen, die Schule früh abgebrochen.

Die Frau auf den Bildern hat wenig gemein mit der Frau, die an einem schwülen Tag Ende Mai mit einer hochgeschlossenen, karierten Bluse auf der Couch einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen in Stuttgart sitzt, die Beine übereinander geschlagen, die Schminke dezent. Ruhig und bedacht spricht sie über ihre Zeit als Prostituierte und ihre Entscheidung, aus dem Milieu auszusteigen: Sie habe länger darüber nachgedacht, mit sich und ihrer Entscheidung gehadert. Ausschlaggebend, so erzählt sie, war auch die Erkenntnis, dass sie, obwohl sie Nacht um Nacht ihren Körper verkaufte, kein Geld sparen konnte, weder für sich noch für ihre zwei Söhne. Sie berichtet von Panikattacken, die sie seit ein paar Monaten fast jeden Tag überwältigen, so dass sie manchmal ein Mittel gegen Angststörungen nehmen muss, um schlafen zu können.

Ein Gewerbe, das Frauen zur Ware macht

Panikattacken, Depressionen und Schlafstörungen: Sabine Constabel kennt die Symptome der Frauen, die zu ihr kommen. Constabel ist Vorsitzende vom Verein "Sisters eV", der Frauen bei dem Ausstieg aus der Prostitution hilft. "Sisters" finanziert ihnen den Lebensunterhalt, bis sie auf eigenen Füßen stehen können. Denn Frauen wie Julia erhalten keine Sozialhilfe vom Staat, schließlich haben sie nie Steuern bezahlt. "Maximal bekommen sie ein Ticket nach Hause", sagt Constabel.

Für die energische Frau ist jede Art der Prostitution eine Vergewaltigung, das Wort fällt immer wieder im Gespräch mit ihr. Das Gewerbe mache Frauen zu Ware, "zu Dreck", Constabel und ihr Verein plädieren dafür, den Kauf von Sex strafbar zu machen. Freiwillige Sexarbeit, das gibt es für die Organisation nicht. Eine nicht unumstrittene Meinung: Andere Organisationen, die Aussteigerinnen betreuen, unterscheiden sehr wohl zwischen Zwangsprostitution und freiwilliger Sexarbeit. Der Gesetzgeber tut das auch: Seit 2002 ist Prostitution in Deutschland als Beruf anerkannt, soll heißen, Frauen können sich als Selbstständige bei den Behörden anmelden und sozialversichern. Doch das tun nur sehr wenige. Und ein 2017 in Kraft getretenes Gesetz schreibt vor, dass Prostituierte und Bordelle stärker kontrolliert werden. 

Fest steht: Das Angebot an Frauen reißt nicht ab. Denn sobald eine Frau mit Hilfe von "Sisters" oder anderer Organisationen das Bordell verlässt, wird ihr Zimmer wieder belegt: "Das ist furchtbar. Jeder Platz, den wir freimachen, wird sofort mit einer neuen Frau besetzt."  Der Grund: vor allem wirtschaftliche Not in den Herkunftsländern, glaubt Constabel.

Die meisten Frauen stammen aus Osteuropa

Keiner weiß genau, wie viele Frauen sich in Deutschland prostituieren. Zehntausende, vielleicht sogar bis zu 400.000, die Zahl wird immer wieder genannt. Offizielle Zahlen gibt es nicht: Erst Mitte 2017 beschloss die Regierung, Erhebungen zum Thema durchzuführen. Nur so viel ist klar: Das Gros der Frauen stammt aus Osteuropa, vor allem aus Bulgarien und Rumänien, den beiden ärmsten Ländern der EU. Das durchschnittliche Nettoeinkommen in Rumänien etwa betrug laut Daten der Europäischen Kommission im November 2016 etwa 480 Euro, mit großen regionalen Unterschieden. Darüber hinaus gibt es auch afrikanische Frauen

Julia, die vor der Prostitution als Reinigungskraft gearbeitet hatte, erzählt, dass sie mehr nach Hause schicken konnte, als sie in Rumänien jemals hätte erarbeiten können. Und ja, es habe auch Momente des Glücks gegeben: Etwa, als sie nach den ersten paar Monaten genug Geld gespart hatte, um mit ihrer Familie ans Meer zu fahren, zum ersten Mal in ihrem Leben.

Am späten Nachmittag sind die Reklametafeln, die abends grell orange und rosa von den Fassaden der Häuser in den engen Gassen im Leonhardsviertel blinken, dem überschaubaren Rotlichtviertel in Stuttgart, noch ausgeschaltet. Die Straßenecken, an denen in ein paar Stunden bullige Männer in Gruppen rauchen und eine Frau in einer hautengen pinken Hose stehen wird, sind noch weitgehend leer. Nur ein Mann mit tätowierten Armen lehnt an einer Tür und starrt aufmerksam auf alle, die durch die Gassen laufen.

Kriminelle Organisationen prägen das Rotlichtmilieu

Gut möglich, dass er zu denen gehört, die Wolfgang Fink vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg nur allzu gut kennt: Die Männer, deren Namen in großen, schwarzen Buchstaben über die Flanken und Rücken von Frauen tätowiert sind, als wären sie ihr Eigentum. Oft sind sie Mitglieder der gewalttätigen Rockerbanden "Hells Angels" oder "United Tribuns", die Frauen in die Bordelle schaffen. Orte, die für Fink nichts anderes als "Legebatterien" sind: Es herrsche immer Kunstlicht, oft wüssten die Frauen gar nicht, ob draußen die Sonne scheint oder ob es regnet. "Die Frauen kommen kaum raus. Die wissen nicht - das haben wir auch oft bei den Vernehmungen gemerkt - welche Jahreszeit gerade ist." Manchmal, erzählt der Kriminalhauptkommissar, sind es sogar die Onkel oder Brüder der Frauen, die sie zum Anschaffen schicken. 

Im Gespräch spürt man Finks Wut auf die Zuhälter, die oft zunächst den Frauen Liebe vorgaukeln, sie aber auch schlagen, um sie gefügig zu machen, sie manchmal sogar zu Tode prügeln. Selbst wenn es zum Prozess kommt, hätten die Zuhälter oft solch eine Kontrolle über die Frauen, dass sie sich nicht trauten auszusagen. Doch ohne ihre Aussage fällt der Prozess zusammen. In den zehn Jahren, in denen Fink als Ermittler im Bereich Organisierte Kriminalität im Bundesland Baden-Württemberg arbeitet, ist es zu weniger als zehn Prozessen gekommen. Manchmal genüge eine Handbewegung eines Zuhälters - er schnippt mit dem Finger - und die Frauen verstummten im Gericht.

Ein anderes Problem: Das Gewerbe verlagere sich immer mehr ins Internet. Das erschwere die Ermittlungen erheblich. Eigentlich ist es nicht Finks Aufgabe, über Lösungen nachzudenken, der Polizist tut es trotzdem: Die Frauen seien alle so jung und nicht in der Lage, die Reichweite ihrer Entscheidung zu begreifen. Prostitution ist in Deutschland erst ab 18 Jahren erlaubt, aber Fink plädiert dafür, das Alter anzuheben. Verbieten, findet er, müsse man die Prostitution nicht. Aber das Geld, das die Frauen erarbeiten, müsse auch bei ihnen bleiben.

"Ein normaler Mensch sein"

Julia sagt, dass sie nie einen Zuhälter gehabt habe. Damit wäre sie die große Ausnahme unter den ausländischen Frauen. "Freiwillig, selbstbestimmt hierher zu kommen, das ist faktisch nicht möglich", sagt Fink. Aber auch auf wiederholtes Nachfragen bleibt Julia dabei: Sie habe nie einen Zuhälter gehabt. So habe sie ihr ganzes Geld für sich und ihre Kinder behalten können. Auch habe sie bis auf wenige Ausnahmen keine Gewalt erfahren.

Heute würde sie eine andere Entscheidung als damals treffen. Sie genießt es, ein normaler Mensch zu sein - das Wort benutzt sie immer wieder: Sie erzählt, wie sie ihre Arbeitskleidung entsorgt hat und sich eine hochgeschlossene Bluse, einen langen Rock, Schuhe ohne Absatz kaufte, "normale Sachen". Das habe sich gut angefühlt. Bald, hofft sie, wird vielleicht aus ihrem Minijob als Putzfrau eine richtige Stelle, mit der sie eine Wohnung bezahlen und ihre Kinder nach Deutschland holen kann. Julia hat Pläne: Sie will einen Deutschkurs besuchen und eine Ausbildung machen.

Und vielleicht, sagt sie, findet sie ja auch noch ein bisschen Glück: Ein Mann, der sie liebt, so wie sie ist.