Im Schrebergarten die Seele baumeln lassen
Kleingärten galten lange als spießig, mittlerweile sind sie gefragter denn je. Hier kann man sich vom Alltag erholen und sein eigenes Obst und Gemüse anbauen. Und dann erfüllen sie auch noch eine soziale Funktion.
Das, was die meisten Menschen auf dem Land vor der Tür haben, fehlt dem einen oder anderen Städter: ein eigener Garten. Schon im frühen 19. Jahrhundert bestand daher die Möglichkeit, sich in der Stadt oder am Stadtrand ein kleines Stückchen Land zu mieten. Hauptzweck war der Anbau von Gemüse und Obst zur Selbstversorgung. Sich zu erholen, die Seele baumeln zu lassen, war eher zweitrangig. Lange galten diese Kleingärten – auch bekannt als „Schrebergärten“ oder „Lauben“ – als spießig spießig so, dass jemand ein ruhiges Leben führen will und Veränderungen ablehnt . Der Begriff „Schrebergarten“ geht zurück auf den Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber. Zwar hat dieser die Kleingärten nicht erfunden, aber zumindest den Anstoß dafür geliefert. Denn ihm lag vor allem die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen am Herzen. Und wie konnte man die besser erreichen, als sich im Grünen körperlich zu betätigen?! Der erste „Schrebergarten“, 1865 in Leipzig eröffnet, war zunächst eher eine Spielwiese, später legten Kinder dort unter Aufsicht eines Lehrers Beete an. Über 150 Jahre später nutzen in Deutschland etwa fünf Millionen Menschen Kleingärten. Jeder gestaltet sein privates Paradies ganz individuell:
„Ich hab Zitronenmelisse, Pfefferminze, Schnittlauch, Minze. / Schnittlauch und ... / Knoblauch hab’n wir auch noch. / Die einen haben Kartoffeln, Bohnen, andere Gemüse. / Was das Anbauen betrifft: viel Obst, viel Birn’, jeder hat so sein Hobby. Jeder Dritte hat ’n kleinen Gartenteich, wo die Frösche drin quaken, ’n paar Goldfische drin.“
Kleingärten sind praktisch, um beispielsweise eigene Kräuter wie Zitronenmelisse, Thymian oder Rosmarin anzubauen, oder Gemüse und Obst. Idyllisch sind Gartenteiche mit Goldfischen und quakenden Fröschen. In den Kleingartenanlagen trennen gerade Wege Blocks von jeweils 20 bis 30 Parzellen Parzelle, -n (f.) ein kleines Grundstück mit bestimmten Maßen . Darauf stehen Lauben, kleine Hütten aus Holz, die sich mehr oder weniger ähnlich sehen. Dienten sie früher dazu, nur die Gartengeräte abzustellen, sind manche von ihnen heutzutage mit Schränken und einer kleinen Küchenzeile bestückt. Ihre Größe ist nach dem Bundeskleingartengesetz genau festgelegt. Erlaubt sind maximal 24 Quadratmeter Grundfläche, einschließlich der Terrasse, Freisitz genannt. In vielen Anlagen werden die gesetzlichen Bestimmungen allerdings nicht immer so genau genommen, verraten dieser Berliner Schrebergartenbesitzer:
„Wird zwar alles nicht eingehalten, wird zwar nicht ganz so genau genommen. Es soll ja sein, dass zum Teil Gemüse angebaut wird, aber die meisten Gärten hab’n ja fast kein Gemüse mehr, weil ja man das auf’m Markt billiger kriegt als aus ’m Garten. / Tatsache ist, dass man ’n Kilo Tomaten billiger im Supermarkt kauft. / Heute is’ es so, die Leute leiden keinen Hunger mehr. Jeder kann sich kaufen, was er will. Aber heute is’ das umgekehrt: aus Spaß an der Freude macht man das.“
Die Zeiten haben sich geändert, auch für die Kleingärtnerinnen und Kleingärtner: Das Fleckchen Erde, das besonders in Kriegs- und Krisenzeiten der Lebensmittelversorgung diente, erfüllt in der heutigen Überflussgesellschaft nicht mehr seinen ursprünglichen Zweck. Stattdessen wird eher der Freizeit- und Erholungswert geschätzt, man besitzt einen Kleingarten aus Spaß an der Freude, man erfreut sich daran. Außerdem hat er einen weiteren Vorteil:
„Ja, wenn wir hier nach Wannsee fahren und uns auf die Decken knallen, dann ein Kommando, alles dreht sich nach links, alles nach rechts, so ungefähr ist es doch. Ich meine, da haben wir hier ’n bisschen mehr Freiraum für uns. Ich meine, ich fühl’ mich hier wohl und verbringe – so möglich – ja also die Wochenenden auf jeden Fall, wenn’s geht noch mehr Zeit [hier].“
Die Kleingärten sind nicht so überlaufen über|laufen so, dass an einem Ort zu viele Menschen sind wie die städtischen Naherholungsgebiete, etwa der Wannsee im äußersten Südwesten Berlins. Bei sonnigem Wetter knallen, legen, sich die Menschen auf mitgebrachte Matten, Picknickdecken oder Handtücher und bräunen sich, drehen sich von links nach rechts. Da hat man in seinem Schrebergarten doch mehr Platz. Alle Kleingärten gehören zu einer Anlage, einer sogenannten Laubenkolonie. In diesen Kolonien entwickelt sich mit der Zeit ein Gemeinschaftsgefühl:
„Na ja, unsere Kolonie is’ wie ’n kleines Dorf. Wir sind 88 Kolonisten hier, und wir duzen uns fast alle. Wir feiern zusammen sehr viel, wir machen Kinderfeste, wir machen Seniorenfahrten, wir machen auch mal ’ne Koloniefahrt irgendwohin. Wir hab’n kleines Vereinslokal, wo wir uns auch mal treffen abends beim kleinen Bier.“
Die Berliner, die bekannt sind für ihre Berliner Schnauze, einen oft derben, aber herzlichen Humor, haben ihre eigene Bezeichnung für „ihre“ Kleingärtner:
„Laubenpieper, na ja, wir sind in der Laube und die piept. / Piept jetzt überall hier."
Ob der Laubenpieper nun so heißt, weil die Wände der Hütten früher so dünn waren, dass man drinnen die Vögel zwitschern hören konnte, oder weil es bei denjenigen, die sich in der Laube aufhalten, „piept“, sie ein bisschen verrückt sind: Möglich sind beide Erklärungen. Laubenpieper sind zudem häufig als Spießer verschrien verschrien (sein) abwertend für: schlechte Eigenschaften besitzen; verrufen , die Gartenzwerge und Wachstuchtischdecken mögen, neugierig sind und tratschen tratschen umgangssprachlich für: über jemanden (schlecht) reden :
„Es is’ ja auch ’n Völkchen für sich, die sich hier ’n Garten nehmen. Nicht jeder will so was. Irgendwie sind’s ja schon ausgesuchte Leute, die [es] sich … / Idealisten /…, die [es] sich selbst aussuchen. Ja, Idealisten, irgendwie. / Die zu wenig Arbeit haben. / Ja, richtig, genau, die zu wenig Arbeit hab’n, genau.“
Die Meinungen über diejenigen, die sich einen Schrebergarten zulegen, sind geteilt: Sie sind ein Völkchen für sich, Menschen, die ihre eigene Lebensweise haben, oder Idealisten, die denken, die Welt ein bisschen besser machen zu können. Eine dritte Gruppe besitzt nur deshalb einen Schrebergarten, weil diejenigen sich nicht ausgelastet fühlen, zu wenig Arbeit haben. Wer sich für einen Schrebergarten interessiert, muss Mitglied in einem entsprechenden Verein werden. Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde ist Berlin mit rund 740 Vereinen Deutschlands Kleingartenhochburg Hochburg, -en (f.) ein Ort, der für etwas besonders bekannt ist; eine Gegend, in der es von etwas sehr viel gibt . Vereine verpachten ver|pachten (einer Person) erlauben, etwas gegen Geld zu nutzen (z.B. Land, ein Gebäude) die Parzellen günstig an ihre Mitglieder. Inzwischen übersteigt die Nachfrage nach städtischen Kleingärten das Angebot. Interessenten müssen deshalb oft warten, dass eine Parzelle frei oder verkauft wird. Dann warten allerdings weitere Kosten auf die stolzen Besitzer, wie Versicherungen, Pacht und Vereinsmitgliedsbeitrag sowie Energiekosten. Je nach Region und Größe des Gartens können zwischen 100 und 200 Euro pro Jahr zusammenkommen. Allerdings wird nicht jede und jeder als künftiges Mitglied akzeptiert:
„Wie suchen uns einen aus, wo wir sag’n: ‚Der passt zu uns, der passt hier rein in die Gemeinschaft‘. Nicht jeder passt rein, und da muss man die paar Mark fuffzig besitzen, die der Garten kostet.“
Die Chemie die Chemie stimmt umgangssprachlich für: es herrscht Harmonie; man kommt gut miteinander aus muss stimmen die Chemie stimmt umgangssprachlich für: es herrscht Harmonie; man kommt gut miteinander aus – und man muss auch ein paar Mark fünfzig besitzen, genug Geld haben, um aufgenommen zu werden. Die sozialen Funktionen von Kleingärten sind nicht zu unterschätzen – auch bei der Integration, denn Migrantinnen und Migranten finden hier einen Ort, um Kontakte zu knüpfen. Aber nicht nur das: Sie sorgen dafür, dass in den Kleingärten inzwischen auch Gemüse angebaut wird, das es hierzulande bisher nicht gab.
Im Schrebergarten die Seele baumeln lassen
spießig — so, dass jemand ein ruhiges Leben führen will und Veränderungen ablehnt
Parzelle, -n (f.) — ein kleines Grundstück mit bestimmten Maßen
über|laufen — so, dass an einem Ort zu viele Menschen sind
verschrien (sein) — abwertend für: schlechte Eigenschaften besitzen; verrufen
tratschen — umgangssprachlich für: über jemanden (schlecht) reden
Hochburg, -en (f.) — ein Ort, der für etwas besonders bekannt ist; eine Gegend, in der es von etwas sehr viel gibt
ver|pachten — (einer Person) erlauben, etwas gegen Geld zu nutzen (z.B. Land, ein Gebäude)
die Chemie stimmt — umgangssprachlich für: es herrscht Harmonie; man kommt gut miteinander aus