1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Ich bin ja niemals eine Dichterin gewesen

15. März 2010

Nelly Sachs ist neu zu entdecken: Eine Ausgabe ihrer Werke und eine Wander-Ausstellung bringen die Stimme des verheerten 20. Jahrhunderts wieder zum Klingen.

https://p.dw.com/p/MQuE
Schriftstellerin Nelly Sachs (Foto: Suhrkamp Verlag)
Bild: Suhrkamp Verlag

Nelly Sachs war die erste Dichterin deutscher Sprache, die am 10. Dezember 1966 in Stockholm mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. An diesem Tag wurde sie 75 Jahre alt, lebte seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Schweden und war einem größeren Publikum noch nicht lange als Schriftstellerin bekannt – eine ungewöhnliche Dichterinnen-Geschichte, selbst unter ihren deutsch-jüdischen Altersgenossen, die Verfolgung und Flucht überlebt hatten.

Die Entfaltung eines Werks

Denn Leonie Sachs, aufgewachsen in einer gutbürgerlichen jüdischen Unternehmer-Familie in Berlin, hatte zwar schon früh zu schreiben begonnen, sie hatte Gedichte und kleinere Prosatexte hie und da veröffentlicht, doch Teil des aufrührerischen und bunten literarischen Lebens der deutschen Hauptstadt war sie nie gewesen. Schüchtern und in sich gekehrt, hatte die 21-Jährige vielmehr eine Erzählung an ihr literarisches Idol, die schwedische Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf, geschickt – und von dieser eine knappe, freundliche Postkarte erhalten, adressiert an "Fräulein Nelly Sachs, Schriftstellerin“; die hütete die junge Unbekannte wie einen "Schatz“, der sie im Jahr 1940 auch ins Exil begleiten sollte.

Buchcover "Nelly Sachs Werke" (Foto: Suhrkamp)
Bild: Suhrkamp Verlag

Wie muss man sich das Leben dieser Frau vorstellen? Einer Frau, die unablässig schreibt – materiell zunächst sorglos, psychisch aber schon als 17-Jährige nach einer verunglückten Liebesgeschichte ins Taumeln geratend –, die mit fast fünfzig Jahren im letzten Augenblick zusammen mit ihrer Mutter das Land ihrer Geburt und Sprache verlässt und fortan unter ärmlichsten Umständen in Stockholm lebt, die allenfalls von einem engen Kreis emigrierter wie schwedischer Intellektueller zur Kenntnis genommen wird – und die erst in Schweden, erst so, zu ihrer eigenen literarischen Sprache findet.

Manuskripte im Küchenschrank

In der "Kajüte“, einem vier Quadratmeter großen Eckchen am Küchentisch der Einzimmer-Wohnung, die Nelly Sachs sich mit ihrer Mutter teilt, beginnt das zweite Leben der Dichterin. Hier entstehen Gedichte und dramatische Entwürfe, die wiederum erst weit nach dem Krieg, von einer jüngeren Generation, als große Literatur entdeckt werden: Der junge Hans Magnus Enzensberger ist es, der Nelly Sachs als nur mit Paul Celan vergleichbare literarische Stimme der Überlebenden im Westen Deutschlands bekannt macht – in der DDR dagegen ist 1947 schon, auf Initiative Johannes R. Bechers, ihr Gedichtband In den Wohnungen des Todes erschienen. Von sich selbst aber sagt Nelly Sachs noch Ende der fünfziger Jahre: Ich bin ja niemals eine Dichterin gewesen. Habe nie einen Schreibtisch bis zum Augenblick besessen – meine Manuskripte liegen hier im Küchenschrank. (…) Ja, eigentlich bin ich eine richtige Hausfrau.

Dichterin eines Jahrhunderts

Schriftstellerin Nelly Sachs (Foto: Suhrkamp Verlag)
Nelly SachsBild: picture-alliance/ dpa/ Bildarchiv

Diese ironisch-bescheidene Selbsteinschätzung kann nun von den Nachgeborenen korrigiert werden: In den ersten beiden Bänden der neuen kommentierten Gesamtausgabe ist von Gedichtband zu Gedichtband mitzulesen, wie sich hier Ton, Bilder und Stimme einer Dichterin schärfen, wie sie gleichsam endlich sich selbst begegnet – ihre Werke aus der Zeit vor 1940 wollte Nelly Sachs allerdings nicht aufgenommen wissen: Erst mit Beginn des Exils fanden sich Thema, Worte und Form für den großen Gesang auf die Opfer des Menschheitsverbrechens. Die Ausstellung Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm – begleitet von einem umfangreichen Katalogbuch – dokumentiert darüber hinaus Leben und Werk vom Aufwachsen der Autorin in Berlin bis zu ihrem Tod am 12. Mai 1970 in Stockholm.

Wir jüdischen Menschen müssen so zurückhaltend wie möglich sein. Du wirst ja (…) die von mir wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, daß ich hinter meinem Werk verschwinden will, hatte Nelly Sachs an einen Freund geschrieben – nun tritt sie auf die denkbar diskreteste Weise lebendig wieder hervor: Dichterin eines Jahrhunderts, das Menschen und Länder wie Sprache verwüstete, dem sie aber ihre Stimme entgegensetzte.

Autorin: Frauke Meyer-Gosau

Redaktion: Gabriela Schaaf

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden.
Band 1: Gedichte 1940-1950; Hrsg. von Matthias Weichelt; 44 €
Band 2: Gedichte 1951-1970; Hrsg. von Ariane Huml u. Matthias Weichelt; 44 €
Suhrkamp Verlag Berlin

Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Ein Katalogbuch zur Wanderausstellung, die am 24. 3. in Berlin beginnt. Von Aris Fioretos. Aus dem Schwed. von Paul Berf. Mit 100 Abb. 35 €

Suhrkamp Verlag Berlin.