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PolitikEuropa

"Fehlannahmen haben Putin zum Krieg verleitet"

Roman Goncharenko
23. Dezember 2022

Der britische Historiker Mark Galeotti spricht mit der DW über falsche Erwartungen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine auf beiden Seiten, den Zustand beider Armeen und darüber, wie es 2023 weitergehen könnte.

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Mark Galeotti, Historiker und Buchautor
Mark Galeotti ist britischer Historiker und Honorarprofessor am University College London.Bild: Photoshot/picture alliance

DW: Präsident Wladimir Putin hat Russland in vier Kriege geführt: In Tschetschenien, Georgien, Syrien und schließlich in der Ukraine. Warum konnte der Westen von der russischen Invasion überrascht werden?

Mark Galeotti: Ich denke, es liegt am Ausmaß. Von Ende 1999 bis heute gab es nur drei Jahre in Putins Regierungszeit, in denen Russland nicht in den einen oder anderen Krieg verwickelt war. Und doch waren es immer nur begrenzte Konflikte. Putin hatte sich jedes Mal Ziele ausgesucht, von denen er dachte, dass er sie leicht gewinnen könnte. Und das grundlegende Missverständnis [im Westen] bestand darin, nicht zu erkennen, in welch hohem Maße der russische Präsident davon überzeugt war, dass er die Ukraine leichter besiegen würde - was sich dann als katastrophale Fehleinschätzung herausstellte.

Sie schreiben in Ihrem Buch, sie seien, wie viele andere Experten auch, von dem Einmarsch überrascht gewesen. Glauben Sie, es hatte etwas mit Putins Isolation während der COVID-19-Pandemie zu tun? Wurde seine Informationsblase zu gefährlich oder zu klein?

Bis zu der im Fernsehen übertragenen Sitzung des Sicherheitsrates in der Woche vor der Invasion habe ich die Wahrscheinlichkeit auf nur bei 30 bis 40 Prozent geschätzt - gerade, weil der Einmarsch keinen Sinn zu ergeben schien.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Putin in vielerlei Hinsicht der klare Gewinner. Er hatte eine riesige Streitmacht an den ukrainischen Grenzen zusammengezogen, und diese Präsenz fügte der ukrainischen Wirtschaft schweren Schaden zu, ohne die Grenzen zu überschreiten. Daraufhin reiste eine Reihe wichtiger westlicher Politiker nach Moskau und brachten Putin mit ihren Bitten, keinen Krieg zu beginnen, in genau die Position, in der er sich gerne befindet. Und auch Kiew war unter Druck, Zugeständnisse zu machen. Putin war also maximal erfolgreich.

"Umfeld sagte Putin nur, was er hören wollte"

Heute wissen wir, wie groß das Missverständnis war. Und wie sehr sich Putin selbst eingeredet hatte, dass die Ukraine kein echtes Land sei, dass die Ukrainer keinen nennenswerten Widerstand leisten würden und dass der angeblich drogenabhängige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, entweder fliehen oder gefangen genommen werden würde. 

Das Foto wurde vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellt. Selensky und mehrere Soldaten in Kampfanzügen in einer Gebäude, das eine Fabrikhalle sein könnte
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky ist weder geflohen, noch festgenommen worden. Hier spricht er zu FrontsoldatenBild: Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa/picture alliance

All diese grundlegenden Fehlannahmen haben Russland zu diesem Krieg verleitet. Und sie zeichnen ein klares Bild davon, in welchem Maße sich Putin ein System geschaffen hat, in dem es für die Menschen nachteilig ist, wenn sie ihm die Wahrheit sagen. Es zeigt sich das Maß, in dem seine Geheimdienstler, sein gesamtes Umfeld, ihm nicht sagte, was er hören musste, sondern nur, was er hören wollte.

Sie sind ein Experte für Russlands Geheimdienste. Warum glauben Sie, dass sie ihn falsch informiert haben? Sind sie nicht so gut wie ihr Ruf?

Es dürfte noch immer bedauerlich gute nachrichtendienstliche Fähigkeiten in Russland geben. Und es gibt sicherlich kluge Analysten. Aber ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem ehemaligen Offizier des Auslandsnachrichtendienstes, der schon 2015 sagte: "Wir haben gelernt, dass man dem Zaren keine unliebsamen Nachrichten überbringt." Mit anderen Worten: Es ist politisch gefährlich, Putin Dinge zu sagen, die er nicht hören will. 

Es hat sich eine Kultur herausgebildet, die den Präsidenten vor unbequemen Wahrheiten abschirmt. Die meiste Zeit über spielt das keine Rolle, weil er nicht wirklich über jedes einzelne Detail im Land bestimmt. Dafür hat er eine Menge Technokraten und Beamte, von denen einige äußerst effektiv sind. Entscheidend ist, dass er wichtige Entscheidungen trifft, die er initiiert, die er vorantreibt, und die dann das ganze Land in eine derartige Katastrophe stürzen können. 

"Russland kann diesen Krieg lange fortsetzen"

Würden Sie sagen, dass Russland seine Kriegsziele verfehlt hat?

Auf jeden Fall! Offen gesagt geht es nur noch um die Frage, wie die Niederlage aussehen wird. Putin hofft immer noch, dass er den Widerstand der Ukraine und des Westens erschöpfen kann, indem er signalisiert, dass dieser Krieg noch lange andauern wird. Und dass er, wenn nötig, immer weiter russische Soldaten in den Konflikt schicken kann.

Putin fordert den Westen geradezu heraus und sagt: Schickt ruhig weiterhin Milliarden von Dollar, Euro und Pfund in die Ukraine, um diesen Krieg am Laufen zu halten. Wir können das, so lange ihr wollt. Das ist wirklich seine letzte Hoffnung, um irgendetwas zu erreichen, das er politisch als Sieg verkaufen kann.

Der Punkt ist doch, dass es den Russen nicht gelungen ist, Kiew einzunehmen. Es ist ihnen nicht gelungen, ihre Kontrolle über die Regionen Donezk und Lugansk wirklich auszuweiten. Sie haben den Krim-Korridor, aber der ist jetzt bedroht. Und natürlich mussten sie sich bereits aus Cherson zurückziehen.

Ukraine Krieg Graffiti nach der Rückeroberung von Cherson
"Cherson ist Ukraine" - Im November hat die ukrainische Armee die Region im Süden des Landes zurückerobert.Bild: Genya Savilov/AFP

Es ist also nicht so, als läge das Momentum auf russischer Seite. Ganz im Gegenteil. Während die Ukraine dank all der Unterstützung aus dem Westen zunehmend eine moderne Armee des 21. Jahrhunderts aufstellt, wird das russische Militär in vielerlei Hinsicht schwächer. Es entwickelt sich zu einer Armee der späten Sowjetunion zurück, die mit halb ausgebildeten Soldaten und Waffen aus den 1970er Jahren kämpft. Damit soll aber ihre Leistungsfähigkeit nicht unterschätzt werden. Russland ist ein großes Land, es verfügt über einen riesigen militärischen Industriekomplex und kann diesen Krieg lange fortsetzen. Aber es wird nicht in der Lage sein, die Ukrainer mit größeren Offensiven für längere Zeit zurückzudrängen.

"Keine Grundlage für Verhandlungen"

Wie lauten Ihre Prognosen für 2023? Kann dieser Krieg nächstes Jahr enden? Und wenn ja, wie?

Er kann enden. Es wird davon abhängen, dass die Ukrainer erhebliche Fortschritte auf dem Schlachtfeld erringen können. Im Moment gibt es keine echte Grundlage für Verhandlungen, weil sich die Ukrainer im Vorteil sehen. Sie möchten, wenn überhaupt, aus einer Position der Stärke heraus verhandeln.

Mehrere junge Männer in Kampfanzügen, einer blickt offenbar sorgenvoll Richtung Kamera
Frisch rekrutierte Fallschirmjäger der russischen Armee: Wie viele Reservisten kann Putin noch einziehen, ohne politische Probleme zu kriegen?Bild: Stringer/AA/picture alliance

Putin hofft verzweifelt, dass er die Sache in die Länge ziehen kann. Er hofft, im Frühjahr vielleicht 150.000 zusätzliche Reservisten zu haben, die in Russland und Weißrussland ausgebildet wurden, und mit ihnen seine Front in der Ukraine verstärken zu können.

Aber dieser Krieg hat bisher allen Erwartungen sehr stark widersprochen. Ich kann mir vorstellen, dass die Ukrainer, die ihren russischen Gegnern nicht nur kämpferisch, sondern auch gedanklich überlegen sind, weitere Großoffensiven planen. Und nur wenn sie auf dem Schlachtfeld gewinnen, haben sie eine Chance, den Kreml zu überzeugen, dass er in irgendeiner Weise verhandeln muss.

Mark Galeotti ist britischer Historiker und Honorarprofessor am University College London. Sein neuestes Buch trägt den Titel "Putins Kriege: Von Tschetschenien bis zur Ukraine". 

Das Interview führte Roman Goncharenko.