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Heißer Herbst in Kiew

Viktor Timtschenko/ Ute Schaeffer26. September 2002

Die Ukraine droht im politischen Chaos zu versinken: Einig ist sich die protestierende Opposition nur, dass Präsident Leonid Kutschma weg muss.

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"Leitet eine kriminelle Vereinigung": Leonid KutschmaBild: AP

Der von vielen erwartete heiße Herbst in der Ukraine ist da. Es hängt eine regelrechte Revolutionsstimmung über Kiew: Am Montag, (23. September) hatten ukrainische Oppositionsführer mit rund 200 Anhängern das Gebäude des Staatlichen Fernsehen UR 1 in Kiew besetzt. Sie verlangten eine Verlesung ihrer Forderungen, es kam zu einem Handgemenge. Statt der abendlichen Nachrichten blieb der Bildschirm leer. Am Dienstag nahmen die verschiedenen Oppositionsgruppen ihre gemeinsamen Protestkundgebungen wieder auf – trotz eines verhängten Demonstrationsverbotes. Bis zu 8000 Menschen nahmen diesmal daran teil. Anlass war der zweite Jahrestag der Ermordung des oppositionellen Journalisten Georgi Gongadse.

"Raub in großem Stil"

Die Vorwürfe gegen Kutschma sind an Massivität kaum zu überbieten. "Die Ukraine wird durch eine organisierte kriminelle Vereinigung unter der Leitung von Präsident Kutschma regiert", sagt Mykola Melnitschenko, ehemaliges Mitglied der Leibgarde des ukrainischen Präsidenten, im Interview mit DW-RADIO/Ukrainisch. "Diese beraubt das ukrainische Volk in großem Stil, eliminiert Staatsmänner sowie Journalisten und handelt gesetzwidrig mit Waffen und Technologien, die in die Hände von Terroristen gelangen."

Protest der Opposition in der Ukraine
Die Opposition protestiert in KiewBild: AP

"Ukraine ohne Kutschma!", steht bei den Demonstration meist auf den Plakaten. Es ist der Slogan, der die durchaus heterogenen oppositionellen Gruppen eint. Sie konnten nun einen zumindest symbolischen Erfolg feiern: Die Rücktritts-Forderung, die am 16. September während einer Protestaktion mehrheitlich angenommen worden war, haben Oppositionsvertreter am Mittwoch (25.9.) Präsident Kutschma persönlich übergeben. Nachdem einige Dutzend Abgeordnete die Nacht zuvor im Gebäude der Präsidentenverwaltung verbracht hatten, war der Präsident schließlich bereit, sich mit den Spitzen der Opposition zu treffen. Bei diesem Treffen hat Kutschma jedoch deutlich gemacht, dass er einen vorzeitigen Rücktritt kategorisch ablehnt.

Mit der Dauer der Proteste zeigt sich die oppositionelle Koalition aus Sozialisten, Kommunisten, dem Block von Ex-Vize-Regierungschefin Julya Timoschenko und dem Bündnis "Unsere Ukraine" des ehemaligen Regierungschefs Viktor Juschtschenko stabiler, als viele erwartet haben. Juschtschenko gi9lt als politischer Hoffnungsträger. Vieles hängt nun von ihm ab, meint Rainer Lindner, Ukraine-Experte an der Universität Konstanz. Entscheidend ist es seiner Meinung nach, ob Juschtschenko es schafft, eine konstruktive, reformorientierte Mehrheit hinter sich zu bringen.

Entscheidung auf der Straße?

Dies scheint bislang fraglich: Dass man Kutschma loswerden möchte ist allen klar, doch schon das Wie bleibt umstritten. Nicht alle Oppositionskräfte unterstützen die radikale Forderung nach dem sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Juschtschenkos "Unsere Ukraine", zahlenmäßig die stärkste Oppositionskraft, versucht innerhalb des politischen Systems Veränderungen herbei zu führen und im Parlament eine reformfähige Mehrheit zu bilden. Das würde dem Ergebnis der Parlamentswahlen entsprechen, aus der die Reformkräfte als Sieger hervorgegangen waren.

Dennoch hatte es Kutschma geschafft, eine präsidententreue Mehrheit aufzubauen. Das konterkariere die Wahlergebnisse, meint Juschtschenko: Solange das Abgeordnetenhaus kein richtiges Parlament sei, sondern eine Vertretung des Präsidentenamtes, werde die Ukraine nicht aus der politischen Krise rauskommen. "Entweder wird darüber auf der Strasse entschieden - oder wir fangen mit Verhandlungen an und finden eine passende Antwort. Oder wir bestätigen die Unfähigkeit des Parlaments, und dann müssen Neuwahlen stattfinden".

Konfrontation statt Demokratie

Doch Beobachter sind skeptisch: Die Aussicht auf eine Verhandlungslösung mit dem Präsidenten sei ebenso gering wie der Aufbau einer stabilen Oppositionsmehrheit, meint der ukrainische Publizist Olexandr Dergatschov. Er hält die Bildung einer Parlamentsmehrheit gegen Kutschma wie auch Verhandlungen mit dem Präsidenten für eine Illusion. "Die Macht zeigt sich nicht sonderlich interessiert an den Spielregeln von Zivilgesellschaft und Demokratie", sagt Dergatschov. "Sie ist konfrontativ."

Also bleibt doch nur die Entscheidung auf der Straße? Einen Umsturz aber werde es in der Ukraine nicht geben, davon ist Dergatschov überzeugt: "Ich denke, dass es keine richtige Revolution geben wird." Die jetzige Entwicklung könne einigen politischen Entscheidungen zwar Auftrieb geben, grundlegend ändern könne sie die politische Situation in der Ukraine aber nicht.