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Warum können Menschen Milch verdauen?

29. Juli 2022

Nur ein Drittel der Erwachsenen kann Laktose verdauen. Lange nahmen Forscher an, der Mensch habe die Fähigkeit entwickelt, als unsere Vorfahren begannen, Milch zu trinken. Eine neue Studie weist in eine andere Richtung.

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Kolumbien | eine Mutter beim Stillen ihres Babys in Bogota
Während des Stillens sind Säuglinge noch laktosetolerantBild: Daniel Garzon Herazo/NurPhoto/picture alliance

Es ist gut möglich, dass Sie eine Laktoseintoleranz haben. Dann sind Sie nicht allein: Zwei Dritteln der Menschheit ergeht es ebenso - und vor 5000 Jahren war ein noch viel größerer Anteil der Menschen laktoseintolerant. Eine nun in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Studie von Forschern der University of Bristol und des University College London zeigt, dass die Fähigkeit der Menschen, Laktose zu verdauen, fast 5000 Jahre später auftrat als der Milchkonsum, zu dem es erste Hinweise etwa 6000 vor Christus gibt.

Mit Hilfe neuer Methoden zur Modellierung großer Datenmengen fanden die Forscher zudem heraus, dass der Milchkonsum nicht der Grund dafür war, dass die Menschen zunehmend eine Laktosetoleranz entwickelten.

Kühe in einer Melkmaschine in den USA
Die globale Milchindustrie - hier eine Melkmaschine in den USA -nutzt etwa 1,6 Milliarden RinderBild: Hans Pennink/AP Photo/picture alliance

"Milch hat überhaupt nichts damit zu tun", sagte Mark Thomas, Autor der Studie und Wissenschaftler am University College London gegenüber der DW. "Ich bin begeistert von der statistischen Modellierungsmethode, die wir entwickelt haben. Soweit mir bekannt ist, hat das bisher noch niemand gemacht."

Was ist Laktoseintoleranz?

Alle Säuglinge können normalerweise Laktose verdauen. Bei den meisten lässt diese Fähigkeit jedoch nach, wenn sie von der Muttermilch entwöhnt werden. Heute sind ungefähr zwei Drittel aller Menschen nicht laktasepersistent. Das bedeutet, dass sie die Laktose, den Hauptzucker der Milch, nicht verdauen können.

Menschen mit fehlender Laktasepersistenz können das Enzym Laktase nicht produzieren, das die Laktose aufspaltet. Fehlt dieses Enzym, kann Laktose ungehindert in den Dickdarm gelangen, wo sie von Bakterien zersetzt wird. Das kann zu unangenehmen Nebeneffekten wie Krämpfen, Blähungen oder Durchfall führen. Die Gesamtheit dieser Symptome wird als Laktoseintoleranz bezeichnet.

Überraschende Ergebnisse

Die Ergebnisse der Studie stehen im Widerspruch zu der weitverbreiteten Annahme, dass der Verzehr von Milchprodukten bei unseren prähistorischen Vorfahren zur Entwicklung einer genetischen Variation führte, die es ihnen ermöglicht hat, Laktose auch im Erwachsenenalter zu verdauen.

Glas und Krug mit Milch
Wurde es für die Menschen überlebenswichtig, Laktose verdauen zu können?Bild: Danko/Zoonar/picture alliance

Diese Annahme ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass der Milchkonsum angeblich so viele Vorteile habe. Jahrelang haben Milchunternehmen, Ärzte und sogar Ernährungswissenschaftler Milch und Milchprodukte als wichtige Vitamin-D- und Kalziumlieferanten und gute Quellen für unbelastetes Wasser angepriesen.

Aber die Wissenschaftler räumten mit dieser Vorstellung schnell auf, nachdem sie große Mengen an medizinischen Daten und DNA von Menschen in Großbritannien analysiert hatten. Sie fanden heraus, dass die Frage, ob die Menschen Laktose vertragen oder nicht, wenig mit der Gesundheit der Menschen oder ihren Kalziumspiegel zu tun hatte - oder damit, ob sie Milch tranken oder nicht, sagte Thomas.

Warum hat sich Laktasepersistenz entwickelt?

Genetische Studien zeigen, dass Laktasepersistenz "das am stärksten selektierte einzelne Genmerkmal ist, das sich in den letzten 10.000 Jahren entwickelt hat", so Thomas. Um 1000 vor Christus begann die Zahl der Menschen mit Laktasepersistenz - und damit der Fähigkeit Laktose zu verdauen - sprunghaft anzusteigen. Nachdem die Wissenschaftler festgestellt hatten, dass nicht der Milchkonsum der Grund für diesen Anstieg war, haben sie zwei alternative Hypothesen erforscht.

Nach der ersten Hypothese könnten neue Krankheitserreger, denen die Menschen ausgesetzt waren und die in Verbindung mit den Symptomen der Laktoseintoleranz tödlich gewesen sein könnten, eine Rolle gespielt haben. "Wir wissen, dass die Exposition gegenüber Krankheitserregern in den letzten 10.000 Jahren angestiegen ist, da die Bevölkerungsdichte zugenommen hat und die Menschen näher an ihren Haustieren lebten", so Thomas.

Die zweite Hypothese hat mit Hungersnöten zu tun. Als schlechte Ernten eintraten und Feldfrüchte ausfielen, wurden Milch und Milchprodukte zu einer der wenigen Ernährungsmöglichkeiten für die laktoseintoleranten prähistorischen Menschen. "Wenn man ein gesunder Mensch [mit Laktoseintoleranz, d. Red.] ist, bekommt man Durchfall. Das ist peinlich. Wenn man aber stark unterernährt ist und sich Durchfall holt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man stirbt", so Thomas.

Die Forscher benutzten dieselben Computermodellierungsmethoden, um zu untersuchen, ob diese Hypothesen die Entwicklung von Lactasepersistenz besser erklären konnten. "Und das konnten sie. Viel, viel besser", sagt Thomas. "All diese Theorien, die sich letztlich auf den Milchkonsum beziehen, scheinen nicht zu helfen." Die Studie konzentrierte sich hauptsächlich auf die europäische Bevölkerung, und es sind weitere Forschungen für andere Kontinente erforderlich.

Adaption aus dem Englischen: Petra Füchsel