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Politik

Großbritannien reformiert Einwanderungssystem

Barbara Wesel
19. Februar 2020

Nach einem Punktesystem sollen nur noch Hochqualifizierte und Besserverdiener eine Chance haben. Kellnerinnen und Altenpfleger bleiben in Zukunft außen vor.

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England, Symbolbild: EU- Arbeiter in Großbritannien
Bild: picture-alliance/AP/F. Augstein

"Es gibt zu viele Einwanderer hier" war eines der Hauptargumente vieler Briten für den Brexit. Und die Regierung in London versprach im Gegenzug seit dem Referendum 2016, die Zahlen von über 200.000 pro Jahr auf einige Zehntausend zu drosseln. Jetzt legt sie die Neuregelung vor, nach der nur noch gut ausgebildete und besser verdienende Bewerber Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis in Großbritannien erhalten können. Außerdem sollen EU-Bürger und Antragsteller aus anderen Teilen der Welt gleich behandelt werden.

Die Zugbrücke wird hochgezogen

Basis der neuen Zuwanderungsregelung ist ein Punktesystem nach australischem Vorbild. Wer ein Jobangebot von einer britischen Firma hat, bekommt dafür 20 Punkte. Geht es um einen qualifizierten Arbeitsplatz gibt es weitere 20 Punkte. Gute Englischkenntnisse bringen 10 Punkte und weitere 20 werden für ein Jahresgehalt ab 30.000 Euro angerechnet. Jeder Bewerber muss insgesamt 70 Punkte erreichen.

UK Priti Patel ARCHIV
Innenministerin Priti Patel hat eingeräumt, dass ihre eigenen Eltern nach dem neuen System nicht mehr ins Land kämenBild: picture alliance/AP Photo/A. Grant

"Wir definieren unsere Politik neu", erklärt Innenministerin Priti Patel. "Wir wollen nur noch die Intelligentesten und Besten. Die Zeiten von billigen, unqualifizierten Arbeitskräften sind vorbei". Damit erfüllt die konservative Regierungspartei ihr Wahlversprechen, die Kontrolle über die Grenzen nach dem Brexit zurückzugewinnen. Die Zahl osteuropäischer Arbeiter im britischen Baugewerbe zum Beispiel wird sinken. Lieferwagenfahrer, Kellerinnen, Köche - weniger gut ausgebildeter Arbeitskräfte, die das Leben in der Gastronomie, in den Hotels und im Servicegewerbe britischer Großstädte in Gang halten, können nach dem neuen System künftig keine Einwanderungserlaubnis bekommen.

Eine Ausnahme soll es allein für das Gesundheitssystem geben: Im staatlichen NHS fehlen rund 50.000 Krankenschwestern und 20.000 Ärzte. Die Regierung hat bisher noch keinen Plan vorgelegt, wo und wie sie angeworben werden sollen. Boris Johnson spricht davon, eigene Kräfte auszubilden. Aber auch dafür gibt es bislang keinen Plan und außerdem würde es Jahre dauern. Ob allerdings medizinisches Personal aus der EU nach dem Brexit und zu geänderten Bedingungen noch Lust auf einen Job in Großbritannien hat, muss sich zeigen. Zuletzt hatten bereits 5000 Krankenschwestern aus europäischen Ländern das britische System verlassen.

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Vor allem die Landwirtschaft fürchtet, dass sie keine Erntearbeiter mehr findet Bild: dapd

Erntehelfer bleiben draußen

Die Bedenken einiger Industriezweige, die einen künftigen Arbeitskräftemangel befürchten, wischt die Regierung beiseite: "Britische Unternehmen werden sich dem Ende der Bewegungsfreiheit anpassen müssen", heißt es im Papier des Innenministeriums. Allerdings werden bereits neue Ausnahmen für besonders gesuchte Berufe wie Verputzer auf dem Bau oder Tischler eingeführt.

Dahinter steht ein Strategiewechsel: Großbritannien verzeichnet quasi Vollbeschäftigung, leidet allerdings unter extrem niedriger Produktivität - sie liegt rund 15 Prozent unter dem Wert der übrigen G7-Staaten. Auch die Investitionen in Innovationen in der Produktion sind unterdurchschnittlich gering. Für Unternehmen war es bisher günstiger, billige und leicht kündbare Arbeitskräfte einzustellen, statt die Produktionsprozesse zu modernisieren. Jetzt soll die Wirtschaft umgebaut werden, hin zu moderneren, weniger Arbeitskräfte-intensiven Modellen.

Allerdings gibt es Bereiche, wo dieser Mechanismus versagt: Etwa in der Landwirtschaft, wo es zwar Visa für Saisonkräfte geben soll, die aber nach ihrem Einsatz das Land umgehend wieder verlassen müssen. Schon im vergangenen Jahr verrotteten mangels Interesse bei osteuropäischen Arbeitskräften tausende Tonnen von Obst und Gemüse auf den Feldern. Ob sie angesichts der neuen Einschränkungen und des unsicheres Wechselkurses für das britische Pfund überhaupt noch kommen wollen, ist unsicher.

Problemfall Altenpflege

Besonders betroffen aber ist die Altenpflege: Die Dienstleistungsgewerkschaft Unison schlägt bereits Alarm: "Für die Pflege wird es ein Desaster". In diesem Sektor arbeiten fast ausschließlich angelernte, schlecht bezahlte Kräfte. Schon jetzt fehlen 120.000 Altenpfleger und die Betreiber der Heime müssen Abteilungen und ganze Häuser wegen Personalmangels schließen.

Auch sie fordern eine Ausnahmegenehmigung, denn sie fühlen sich von dem Verweis von Innenministerin Patel, dass rund acht Millionen Briten nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv sind, nicht beruhigt. Die bisherigen Finanzierungsmodelle gäben deutlich höhere Gehälter nicht her und der Ruf der Altenpflege sei so schlecht, dass Briten dafür kaum zu gewinnen seien, heißt es beim Verband der Pflegeeinrichtungen. 

"Historischer Augenblick"

Innenministerin Priti Patel lobt die Neuregelung der Zuwanderung  als "historischen Augenblick für das Land", mit dem die Zuwanderung "zum ersten Mal seit Jahrzehnten" unter britische Kontrolle gebracht werde. Das stimmt allerdings nur, wenn man die Fakten nicht so genau anschaut. Denn es gab immer einen steuerbaren Teil der Immigration, nämlich die Zuwanderung aus außereuropäischen Ländern. So war schon 2018 die Netto-Immigration aus EU-Ländern auf rund 74.000 gesunken, während rund 250.000 Zuwanderer aus außereuropäischen Ländern ihr Glück auf der britischen Insel suchten.

Symbolbild Kellner
Die britische Serviceindustrie ist Säule der Binnenkonjunktur - hier arbeiten viele EU-BürgerBild: Colourbox

In früheren Jahren war das Verhältnis in der Regel ausgeglichen - bei den rund 50 Prozent Nicht-EU-Migranten wäre also durchaus schon immer Steuerung möglich gewesen. Selbst Theresa May machte in ihrer Zeit als Innenministerin zwar große Versprechen und wollte die Zuwanderung auf fünfstellige Zahlen senken. Aber auch sie hat nie versucht, an dieser Stellschraube zu drehen.

Es war der frühere Premier Tony Blair, der 2004 als erste EU-Regierung die Tore für Arbeitnehmer aus den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern geöffnet hatte. Alle anderen nutzten die beim Beitritt vereinbarten Übergangszeiten. Der Zustrom - 2006 war die Zahl schon auf rund 100.000 gestiegen - half ihm dabei, einen Wirtschaftsboom vor allem in der Bauwirtschaft und im Service-Sektor zu erzeugen. Die heutige konservative Regierung steuert stattdessen entschlossen in die entgegengesetzte Richtung.