Gletscherschmelze im Himalaya
30. November 2010"In dieser Nacht war das Wetter außergewöhnlich. Blitze erleuchteten den Himmel, Donner erschütterte die Berge, und dann fing es an, heftig zu regnen. Es regnete nicht lange, aber so stark, wie ich es noch nie erlebt hatte."
In der kleinen Stadt Leh, der Hauptstadt von Indiens nördlichster Provinz Ladakh, schildert der Bauer Karma Jamyang die Ereignisse der Nacht zum 6. August diesen Jahres. Er und seine Familie entrannen damals nur knapp dem Tode: "Plötzlich barst die Haustür, Wasser und Schlamm schossen herein. Wir gerieten in Panik," erzählt Jamyang. "Wir wollten weg, aber wohin? Rechts und links reißendes Wasser, Schlamm und Steine. Wir kletterten aufs Dach, aber wir hatten Todesangst und flehten die Götter an, uns zu retten." Karma Jamyang verlor in diesen Stunden sein ganzes Hab und Gut, begraben unter meterhohen Schlammmassen. Der Wolkenbruch forderte in Leh und Umgebung fast 200 Menschenleben.
Fatale Folgen für Ladakh
Ladakh ist eine Hochwüste, 3500 Meter über dem Meer im Regenschatten des Himalaya-Gebirges gelegen. Hier regnet es normalerweise nicht mehr als in der Sahara. Der Sturzregen im vergangenen August war also ein außergewöhnliches Wetterereignis. Indische Meteorologen machen den weltweiten Klimawandel dafür mitverantwortlich.
Nach Angaben des internationalen Forschungsinstituts ICIMOD für die Himalaya-Hindukusch-Region in Kathmandu, Nepal, erwärmt sich das Klima in der Hochgebirgsregion stärker als im Weltdurchschnitt. Die französische Entwicklungsagentur GERES hat im vergangenen Jahr eine umfangreiche Studie zum Klimawandel veröffentlicht. GERES wertete die Messdaten der einzigen Wetterstation Ladakhs für die vergangenen 35 Jahre aus und befragte mehrere hundert Dorfbewohner.
Steigende Temperaturen, weniger Wasser
"Die Messdaten der Wetterstation belegen, dass sich die Tiefsttemperatur im Winter um ein ganzes Grad erhöht hat. Die Tageshöchsttemperaturen im Sommer sind um fast ein halbes Grad gestiegen", fasst GERES-Mitarbeiter Samten Choephel die Ergebnisse zusammen.
Die überwiegende Mehrheit der befragten Dorfbewohner bestätigte diese Trends, meint Samten Choephel. Die Befragung habe auch gezeigt, dass im Winter weniger Schnee falle und das Wetter wärmer geworden sei. Viele Bauern beobachteten, dass ihre Obstbäume früher blühen, dass Zugvögel länger bleiben, dass man heute selbst in hochgelegenen Lagen Weizen ernten kann, wo früher nur die genügsamere Gerste wuchs. Wenn weniger Schnee fällt und gleichzeitig die Temperaturen steigen, bekommen die Gletscher weniger Nachschub und schmelzen ab. Die Menschen in Ladakh spüren schon heute die Konsequenzen. "Die Mehrzahl der Dorfbewohner, ich würde sagen rund 80 Prozent, sind auf das Schmelzwasser der Gletscher angewiesen, zum Trinken und Kochen, aber auch zur Bewässerung der Felder", erklärt Samten Choephel. "Die rasante Gletscherschmelze verursacht Wasserknappheit, und das bedeutet für viele Bauern letztendlich Ernteverluste."
Die Gletscher schmelzen, doch wie schnell?
Die Erforschung und Beobachtung der Himalaya-Gletscher steckt noch in den Kinderschuhen. Erst im vergangenen Jahr richtete die indische Regierung im Himalayastädtchen Dehra Dun ein Zentrum für die Gletscherforschung ein. Dort beschäftigt sich Dwarijka Dhobal mit dem Klimawandel: "Die Gletschertore, durch die das Schmelzwasser austritt, bewegen sich zwischen fünf und zwanzig Meter pro Jahr zurück. Auch das Volumen sinkt, die Eisschichten werden um durchschnittlich 30 cm pro Jahr dünner."
Im vergangenen Jahr stand die Gletscherschmelze im Himalaya im Mittelpunkt einer internationalen wissenschaftlichen Debatte. Die Prognose im Bericht des Weltklimarates, das Himalayaeis sei bis 2035 abgeschmolzen, erwies sich als Zahlendreher. Dass die Gletscher auf dem höchsten Gebirge der Welt schmelzen, sei jedoch unstrittig, meint Dwarijka Dhobal: "Viele Millionen Menschen sind zum Überleben vom Schmelzwasser der Himalaya-Gletscher abhängig. Außerhalb der Regenzeit, besonders aber in den heißen, regenarmen Sommermonaten wird der Ganges zum Beispiel zu 35 Prozent von Schmelzwasser gespeist. Daher ist absehbar, dass es in weiten Teilen Südasiens zu Wassermangel kommen wird."
Autor: Rainer Hörig
Redaktion: Irene Quaile/rey