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Giro: Der Überraschung folgt Ernüchterung

Tom Mustroph
25. Oktober 2020

Während das Corona-Chaos zeitweise den Giro dominiert, treten zwei völlige Außenseiter ins Rampenlicht. Die Zukunft des Radsports in Pandemie-Zeiten ist ungewiss und hängt von vielen Faktoren ab. Es gibt viel zu tun.

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Italien Radrennen Tao Geoghegan Hart
Tao Geoghegan Hart: der Überraschungssieger des Giro 2020 Bild: Gian Mattia D'alberto/AP Photo/picture alliance

Der Giro d'Italia ist zu Ende. Tao Geoghegan Hart von Team Ineos Grenadiers gewinnt ihn: Ein Helfer, der einen anderen Helfer, den Australier Jai Hindley, erst im abschließenden Zeitfahren bezwang.

Dieses Ergebnis ist überraschend. Noch überraschender ist aber, dass der Giro überhaupt das finale Ziel in Mailand erreicht hat. Die lombardische Metropole blieb selbst dann Etappenstadt, als sie im Zuge der zweiten Corona-Welle zum Infektionshotspot des Landes avancierte. Verzweifelt versuchten die Organisatoren, die Bevölkerung zum Fernbleiben von der Strecke zu bewegen. "Bleibt zu Hause, guckt das Rennen im Fernsehen", sagten, nicht ganz uneigennützig, die Kommentatoren der RAI. Mit der gleichen Botschaft waren auch Lautsprecherwagen auf dem Parcours unterwegs.

"Wir leben in einer surrealen Situation. Beim Giro oder bei der Vuelta die Straßen ohne Fans zu sehen, tut einfach weh", meinte Gianni Savio, seit 1986 Radsportmanager und beim Giro als Chef des Teams Androni Giocattoli, gegenüber der Deutschen Welle. Aber man müsse sich an solche Extreme gewöhnen. "Es geht nicht anders."

Alles besser im nächsten Jahr?

Zu der surrealen Situation beim Radsport gehört aber auch, dass zwei der drei wichtigsten Rundfahrten zeitweise zeitgleich stattfanden - und dabei um das TV-Publikum konkurrierten. Eine Überdosis Radsport, nach der Phase des Lockdowns.

Radsport Ralph Denk
Bora-hansgrohe-Teamchef Ralph Denk im InterviewBild: picture-alliance/dpa/M. Balk

Für die kommende Saison hofft die Branche wieder auf einen normalen Kalender. "Ich hoffe es, dass alle Rennen, auch die Überseerennen, stattfinden können", sagt Bora hansgrohe-Chef Ralph Denk recht optimistisch. Rennen in China, dem Ursprungsland der Pandemie, oder in Nord- und Südamerika, wie sie in früheren Jahren im Kalender des Weltverbands UCI auftauchten, sind aktuell aber schwer vorstellbar.

Sogar der innereuropäische Radsport-Grenzverkehr ist gerade eingeschränkt. Am Sonntag wollte die Vuelta in Spanien auf den Col du Tourmalet in Frankreich. Doch die französischen Behörden legten ihr Veto ein. Auch die geplante Königsetappe des Giro am Samstag musste auf den Abstecher in die französischen Alpen verzichten. Viel zwischenstaatliche Harmonisierungsarbeit ist gefordert, damit der Radsport im zweiten Jahr der Pandemie auch länderübergreifend stattfinden kann.

Ungeklärte Gesundheitsrisiken

Eine andere Baustelle sind die gesundheitlichen Folgen einer Corona-Erkrankung auf die auf Höchstleistung getrimmten Körper von Ausdauersportlern. Immerhin vier Profis wurden beim Giro positiv getestet. Der Kolumbianer Fernando Gaviria fing sich das Virus sogar zum zweiten Mal ein. An ersten Studien werde schon gearbeitet, teilt Christopher Edler, Teamarzt von Bora-hansgrohe, und im Hauptberuf im Krankenhaus der Berufsgenossenschaft in Hamburg angestellt, der Deutschen Welle mit.

Radrennen 11. Etappe Porto Sant'Elpidio - Rimini
Handschuhe, Masken, Abstand: Hygiene-Maßnahmen während des Giro d'Italia 2020Bild: Roth/picture alliance

"Es werden verschiedene Organsysteme untersucht. Führend ist da mit Sicherheit das Herz, der Herzmuskel, weil man ja weiß, dass generell Virusinfektionen oder auch andere Infektionen bei Sportlern schon Auswirkungen auf den Herzmuskel haben können", erläutert Edler. Ob Corona in dieser Hinsicht eine besondere Rolle spiele oder vergleichbar sei mit anderen Viruserkrankungen, sei noch fraglich. "Welche Auswirkungen könnte es auf das zentrale Nervensystem haben? Damit befassen sich mittlerweile einige Forschungsgruppen", sagt der Teamarzt von Bora-hansgrohe.

Unsichere Testergebnisse

Weiter begleiten wird den Radsport wohl auch das Risiko der falsch positiven Tests. Ralph Denk betont: "Was die Testerei anbetrifft: Es ist Lotterie. Wie bei Michael Matthews, der vom Giro heimgeschickt wurde, bei dem es dann anschließend zwei negative Tests gegeben hat." Aber man müssen sich wahrscheinlich mit der Lotterie arrangieren, sagt der Rennstall-Chef von Bora-hansgrohe achselzuckend.

Italien Steven Kruijswijk Radrennen
Steven Kruijswijk wurde positiv getestet und musste den Giro verlassenBild: Gian Mattia D'alberto/AP Photo/picture alliance

Einen Ausweg sieht Denk nur darin, dass Nachtests zugelassen, diese auch von den Gesundheitsbehörden akzeptiert werden - und dass genügend Zeit für Nachtests eingeplant wird.

Eingeforderte Mitbestimmung mit Folgen?

Ermutigende Signale gab es bei diesem Giro immerhin auch. Die Radprofis machten mobil und protestierten gegen überlange Etappen. Das 19. Teilstück wurde deshalb von knapp 260 auf 124 Kilometer verkürzt. Die Abstimmung der Fahrer lief über einen Messaging-Dienst. Das bestätigt Radprofi Rick Zabel: "Nur Bora und Ineos waren dafür, die ursprüngliche Etappe zu fahren, alle anderen Teams dagegen." 

Zabel wertete dies als Zeichen für einen Bewusstseinswandel unter den Radprofis - und einen Schritt hin zu einer unabhängigen Fahrergewerkschaft. "Ich glaube, wir Fahrer haben gezeigt, dass wir die Schauspieler in diesem Stück sind. Und wenn wir nicht mitspielen, findet auch kein Stück statt", resümiert der deutsche Profi vom Team Israel Start-Up Nation. "Ich glaube, das war eine wichtige Message, auch an den Veranstalter."

GIRO d'ITALIA 2020 - 20. Etappe Alba - Sestriere
Masken überall: Der am Ende Zweitplatzierte Jai HindleyBild: Roth/picture alliance

Radprofis, so der 26-Jährige, sollten schon bei der Streckenplanung hinzugeholt werden. Und die Teams sollten an den Fernsehgeldern beteiligt werden.

Ungewissheit aller Orten

Nicht jeder allerdings befürwortet solche Veränderungen. Giro-Direktor Mauro Vegni verurteilte beispielsweise die Streikaktion. "Darauf hätten wir gut verzichten können, auch wegen der Fans, die vielleicht ein, zwei Stunden umsonst an der Straße auf die Fahrer gewartet haben", sagte Vegni verärgert. Und der Giro-Boss drohte sogar: "Ich denke nur: Wir beenden den Giro jetzt. Aber danach wird jemand dafür bezahlen." Gerüchten zufolge will Vegni die Prämienzahlungen an die Fahrer zurückhalten.

Was auch immer in puncto Mitspracherecht der Profis geschieht: Der Giro d'Italia 2020 ist über die Bühne gegangen. Doch wie es mit dem Radsport insgesamt in diesen Pandemie-Zeiten weitergeht, ist höchst ungewiss. Dagegen erscheinen sportliche Überraschungen wie der Giro-Gesamtsieg des Briten Tao Geoghegan Hart nur als Randnotiz.