Nationale Krankheiten?
8. Juli 2008"Rückenschmerzen! Volkskrankheit Nummer 1!" So liest man es immer wieder in der deutschen Presse. Die Statistik sagt: Jeder dritte Deutsche hat Probleme mit seinem Rücken. Sind die Deutschen also schlecht gebaut? Handelt es sich hier um einen deutschen Gendefekt, der eine National-Krankheit bewirkt? "Viele Krankheiten haben zwar genetische Ursachen", sagt Humangenetiker Markus Nöthen, Leiter des Institutes für Humangenetik der Universität Bonn. "Aber eigentlich gibt es den Begriff der nationalen Krankheit in der Medizin so nicht. Es gibt keine Weltkarte der nationalen Krankheiten.“
Unschuldige Gene
Jedoch gebe es Volkskrankheiten, die in bestimmten Ländern häufiger sind als in anderen Ländern, sagt Nöthen. Man kenne zum Beispiel Unterschiede bei Herzinfarkten, die mit Übergewicht zusammenhängen. So ist in Europa die Herzinfarkt-Rate deutlich höher als in Asien oder Afrika. Ebenso bei Bluthochdruck. Wandern Afrikaner aber in die USA aus, erkranken sie häufig an Bluthochdruck. Laut Nöthen ist das ganz klar eine Frage der Umgebung und vor allem der Ernährung. Mit den Genen habe das nichts zu tun, ebenso wenig wie die Rückenschmerzen der Deutschen, sagt Nöthen. "Die Unterschiede zwischen Nachbarländern, wie zum Beispiel Frankreich und Deutschland sind bezüglich der genetischen Ausstattung gering."
Sonderfall Inselvölker
Dies bedeutet nicht, dass es generell keine Krankheiten gibt, die im Erbgut eines Volkes festgehalten sind: "Inselvölker“ leiden häufig darunter. Auch ein Teil der über die Welt verstreut lebenden orthodoxen Juden hat damit Probleme. "Manche Länder oder manche Bevölkerungsgruppen lassen sich auf wenige Personen zurückführen“, erklärt Humangenetiker Nöthen die These. "Irgendwann ist zum Beispiel nach Finnland eine bestimmte Anzahl an Personen ausgewandert. Und aus denen hat sich dann im Wesentlichen die finnische Bevölkerung rekrutiert. Diese Personen, die zur Gründung der Bevölkerung beitrugen, trugen zufälligerweise bestimmte Mutationen."
Diese genetischen Veränderungen des Erbgutes wurden dann an die Nachkommen weitergegeben. Problematisch wird das, wenn zwei Menschen mit denselben genetischen Veränderungen Kinder miteinander zeugen. Es kann sein, dass die Kinder gesunder Eltern dann an schwerwiegenden Stoffwechselkrankheiten oder Missbildungen leiden.
Gründe für Krankheiten aufspüren
Bei Krankheiten, die in einzelnen Nationen besonders häufig beklagt werden, ist die Herkunftsforschung hingegen schwieriger, erklärt der Internist Norbert Kohnen. Der Ethnomediziner arbeitet am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Düsseldorf. Er berichtet von einem Einsatz auf den Philippinen: "Ich bin schwach, ich fühle mich schwach. Ich hätte gerne Vitamine", klagte dort jeder dritte Patient. "Anfangs habe ich denen Medikamente gegeben“, sagt Kohnen. Später stellte sich heraus, dass die Lebensumstände verantwortlich waren: "Die Schweine tranken aus einem Trog, und dort gingen die Menschen hin und spülten darin ihr Geschirr ab. Das Wasser war verseucht und Wurmerkrankungen der Grund der Schwächegefühle."
Jede Nation hat ein Lieblings-Symptom
Je wichtiger ein Symptom einer Krankheit genommen wird, desto häufiger wird von ihr berichtet. Das kann zu kuriosen Ergebnissen führen, wie Dr. Kohnen aus Nepal weiß. Für die Menschen dort waren Schwellungen an den Beinen ein alarmierendes Krankheitszeichen. "Und der deutsche Arzt hat auf manches Bein geguckt und überhaupt keine Schwellung gesehen“, schildert Kohnen. "Aber was er gesehen und gehört hat war, dass diese Leute alle husteten. Aber Husten, weil alle husteten, war kein Krankheitszeichen bei ihnen. Und er hat sogar einige herausgefischt, die eine Lungenentzündung hatten."
Vielleicht haben also die Deutschen gar nicht häufiger Rückenschmerzen als andere Völker, beachten dieses Symptom aber stärker. Da ist es schwierig, eine verlässliche Weltkarte der nationalen Krankheiten zu erstellen, die Tradition pfuscht zu sehr hinein. Das kann man schon sehen wenn Kinder Bauchschmerzen haben. Kohnen schildert: Wenn ein deutsches Kind zur deutschen Mutter komme und über Schmerzen klage, dann sage die deutsche Mutter: "Du hast dir den Magen verdorben." Komme das französische Kind zur französischen Mutter, dann vermute die eine Lebererkrankung. Man glaube, wenn man zu viel esse, dann schwille die Leber an und deswegen bekomme man Beschwerden, so Kohnen. Komme nun das türkische Kind zur türkischen Mutter, dann sage die: "Dein Körper ist geschwächt.“
So wächst schon mit den Kindern ein nationales Bewusstsein für Krankheiten heran. In sofern gibt es sie dann also doch, die nationalen Krankheiten.