Urban Gardening fördert Integration: Da wächst was zusammen | Wissen & Umwelt | DW | 13.07.2020
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Wissen & Umwelt

Urban Gardening fördert Integration: Da wächst was zusammen

Arbeitslosigkeit, Schulden, Parallelgesellschaften bedrückten viele Wuppertaler. Dann fanden sie Lösungen gegen Depression und für Integration: gemeinsam Säen, Pflanzen, Ernten. Heute gibt es viele Stadt-Projekte.

Die rostige Treppe an der Hauswand in dem unscheinbaren Innenhof ist wackelig und führt fast senkrecht nach oben: "Achtung, die unterste Stufe ist lose, die darfst du nicht betreten", warnt Burcu Eke-Schneider mit energischer Stimme. Doch nur über diese steile Stiege ist der Dachgarten im Kulturzentrum der Alevitischen Gemeinde zu erreichen - mitten im Zentrum der früheren Industriemetropole Wuppertal. Burcu Eke-Schneider steigt voller Elan voraus: "Langsam geht es aufwärts." Damit meint die Friedensarbeiterin allerdings nicht diese Treppe, sondern ihr Projekt an der Uni Wuppertal: Dabei will die Doktorandin herausfinden, wie sich integrative Prozesse einer internationalen Gemeinschaft auf die Stadtentwicklung auswirken. 

"Die meisten Zuwanderer waren Bauern in der Türkei, in Spanien, Italien ehe sie nach 1955 als Gastarbeiter nach Deutschland kamen", erklärt Eke-Schneider. "Jetzt lebt die vierte Generation der Migranten hier und hat keine Ahnung mehr vom Landleben. Das ist ein großer Verlust von Wissen, Tradition und Identität." Genau da setzt ihre Idee des Friedensgartens an, die neueste von vielen Multikulti-Garten-Initiativen in der Großstadt im Bergischen Land. Die Doktorandin, die erst vor vier Jahren ohne Verwandtschaft nach Deutschland kam, hat ihn initiiert.

Damals war die Arbeitslosenquote von einst fast 20 Prozent schon gesunken, Aufbruchstimmung war spürbar. Andererseits: 40,5 Prozent Migranten, Menschen mit 160 verschiedenen Nationalitäten, wohnen in Wuppertal. Ihr Armutsrisiko ist in den vergangenen Jahren gestiegen. 

Willkommen in Wuppertal

 "Viele leben hier in Parallelwelten. Doch die Grünflächen sind unsere Schmelztiegel. Hier sind alle gleich", sagt die 38-jährige Powerfrau. Die Natur offenbare sich als wahrer Ort, um Unterschiede in Sprache, Herkunft, Kultur, Religion, Tradition zu vergessen. Hier seien alle willkommen und akzeptiert, um ins Gespräch zu kommen. Hier mache man sich der Verantwortung für die Zukunft der Städte bewusst und entwickele gemeinsam Lösungen für Frieden, Klimagerechtigkeit und zum Erhalt der biologischen Vielfalt", sagt Eke-Schneider. 

Burcu Eke-Schneider (vorn) und Johanna Dimmer stehen auf der steilen und rostigen Eisentreppe, die hinauf in den Friedensgarten in Wuppertal führt

Nur dieser Weg führt hinauf in den Friedensgarten: Burcu Eke-Schneider (vorn) und Johanna Dimmer sind Teil der Gemeinschaft, die sich für Frieden, Klimagerechtigkeit und Artenvielfalt einsetzt

Grüner Schmelztiegel in der Stadtmitte

Hier oben im Friedensgarten präsentiert sich ein Bild aus wilder Natur mit Efeu-Ranken, Komposthaufen, Totholz für Insekten und eine Fläche mit geordneten Pflanzreihen. Unter Einhaltung der Abstandsregeln wurden im Frühjahr Samen gesät für Kräuter, Kohl und Salate. "Gerade der Corona-Lockdown hat uns gezeigt, dass der Weg zur Natur der richtige ist, wir uns selbst gesund ernähren und sogar teilen können", hat Eke-Schneider erfahren. Die grüne Oase ist zum Zufluchtsort vor der Haustür geworden:

Gemeinsame Gartenarbeit fördert die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund

"Zucchini, Salat, Rucola, Zwiebeln, Auberginen, Gurken, Erbsen, Bohnen, Kürbisse", zählt Johanna Dimmer auf, "in einem Hochbeet wachsen Tomaten." Dimmer ist ganz in ihrem Element. Sie wuchs in Prag auf. Aber die Wochenenden verbrachte die Familie in der "Datscha" auf dem Land.

Als Kind lernte sie, Gemüse und Obst anzubauen, das Geerntete zu schätzen, kochen und konservieren. Von den Erlebnissen zehrt sie heute: "Ich verbinde positive Erinnerungen und fühle mich meiner Familie sehr nah durch die Aktivitäten hier im Garten." Ihr Wissen und ihre Verbindung zur Natur gibt Johanna an ihren kleinen Sohn weiter und teilt es mit ihren Wuppertaler Freunden. Zehn sind an diesem Tag in den Garten gekommen. Einige haben im noch provisorischen Sitzkreis Tee und Kekse bereitgestellt.

Gemeinsame Pflanzaktionen in solchen Parzellen fördern nicht nur das Miteinander, sie stärken die Zivilgesellschaft und tragen zur Sicherung der städtischen Nahrungsmittelversorgung, besagen Studien wie die des Fraunhofer-Instituts und des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung.

Menschen aus vielen Länder der Welt kommen zum Urban Gardening in den Friedensgarten der Alevitischen Gemeinde Wuppertal

Teetrinken, Essen, Plaudern, Gemeinsamkeiten erkennen, Verbindungen schaffen, Freundschaften schließen: Das gehört zum Konzept des Städtischen Gärtnerns

Auch Johannes hat das gemeinsame Gärtnern schätzen gelernt: "Draußen sein, das habe ich lange Zeit nur in Verbindung mit Fußball erlebt." Inzwischen genießt er die friedvolle Stille im Zentrum: "Das Gärtnern hat Potential." Für die 20 Jährige Studentin Ekimsu  bietet die Gruppe Familienersatz. Die gleichaltrige Bengi Çiplak wuchs ohne eigenen Garten oder Balkon auf, sie hat sich bisher in der Glaubensgemeinschaft der Aleviten mit Jugendlichen beschäftigt. 

Nun plant sie hier im Grünen eine plastikfreie, nachhaltige Sitzecke: "Wir kommen alle aus unterschiedlichen Gegenden und bringen daher viele Ideen ein." Das Wort Migrant, schwarz, weiß mit Bezug auf die Hautfarbe oder die Nennung des Herkunftslandes - Begriffe, die stigmatisieren könnten, benutzen diese Wuppertaler bewusst nicht. "Die Sprache soll verbinden, nicht spalten", nennt Burcu Eke-Schneider den Grund. 

Salat und Schnittlauch im Balkonblumenkasten aus dem Dachgarten der Alevitischen Gemeinde Wuppertal

Salat und Schnittlauch - kleine Ernte im Balkonblumenkasten aus dem Dachgarten der Alevitischen Gemeinde Wuppertal

Wunsch der Selbstversorgung als Folge der Corona-Pandemie

Für Burcu Eke-Schneider ist dieser gemeinsame Garten oberhalb des Kulturzentrums "das Herz der Stadt", in dem neben prächtigen Pflanzen "Frieden und Liebe" gedeihen sollen. Deshalb hat die Ideengeberin ihn Friedensgarten genannt. 

Gemüse aus der Grünanlage

Die  Lokalpolitikerin Yazgülü Zeybek besucht den Dachgarten zum ersten Mal. Diese und weitere Garten-Initiativen findet sie großartig: "Gerade während des Corona-Lockdowns ist vielfach der Wunsch entstanden, selbst Obst und Gemüse anzubauen. Leute, die keinen eigenen Garten oder Balkon haben, können das nun in Gemeinschaft tun und sich austauschen." Für die Stadt sei es wichtig, eine "öffentliche, essbare" Stadt zu kreieren. "Wir unterstützen diese Projekte für Nachhaltigkeit und Diversität und wollen noch mehr Raum für solche Flächen schaffen", verspricht die Spitzenkandidatin von Bündnis 90/ Die Grünen im Stadtrat. 

Frische Erde aus Bioabfüllen in weißen Säcken abgefüllt - die Abfallwirtschaftsbetriebe der Stadt Wuppertal stellen diese Erde und Kompost als Dünger zur Verfügung

Damit es grünt und blüht: Erde und Kompost - gesponsert von den Abfallwirtschaftsbetrieben der Stadt Wuppertal und produziert aus Grünabfällen

Die städtischen Abfallwirtschaftsbetriebe stellen günstig Kompost und Pflanzerde zur Verfügung. Neben dem Friedensgarten gibt es in Wuppertal den Inselgarten, den Archegarten, den Honiggarten, die Pflanzbar, den Permakulturhof und viele mehr. Auf einem ehemaligen Bahngelände mit insgesamt ca. 60.000 Quadratmeter Fläche soll eine klimaneutrale Quartier-Farm entstehen, ein europaweit einzigartiges Projekt. Und im Utopiastadtgarten wenden die Macher die Aquaponik-Methode an. Beeinflusst werden die Wuppertaler Bewegungen von internationalen  Urban Gardening-Projekten wie etwa in New York

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Heimatgefühle und Herzen, die für die Natur schlagen

Eine deutsche Erfindung ist der Schrebergarten. Kleine Gartenparzellen, auch Kleingartenkolonie genannt, sind besonders in Großstädten sehr gefragt. Sie entstanden auf Brachflächen, etwa in der Nähe von Eisenbahngelände. Allein in Wuppertal gibt es 7000 Schrebergärten, organisiert in 116 Vereinen. Bundesweit betätigen sich in 82 Prozent aller Kleingärtnervereine auch Migranten.

"Multi-Kulti ist uns ein wichtiges Anliegen", sagt Fritz Ortmeier vomStadtverband der Gartenfreunde: "Alle Geschlechter haben die gleichen Rechte, aber Fahnenstangen sind verboten, und die deutsche Sprache zur Kommunikation ist uns wichtig."

Anja und Wadii Serhane hatten Glück, konnten einen Gartenanteil pachten, einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt. In der Kleingartenkolonie auf dem Berg, mit herrlichem Blick auf die Stadt, blühen Blumen üppig, Gemüse wächst in rauen Mengen, Insekten schwirren herum, Wildkräuter dürfen sprießen.

Urban Gardening in Wuppertal: Alae (links), Anja und Waddii Serhane - hier im Kleingarten der Serhanes in Wuppertal

Gärtnern und Natur erleben ist echte Leidenschaft von Alae (links), Anja und Waddii Serhane - hier im Kleingarten der Serhanes in Wuppertal

"Die Passion kommt von mir", schwärmt Anja Serhane. "Mein Mann ist in Marokko in der Stadt aufgewachsen. Seine Großeltern hatten dort einen Selbstversorgergarten auf dem Land." Das Ehepaar strahlt um die Wette: "Inzwischen liebe ich die Berührung mit der Erde, zu sehen, wie sich Erde, Kompost, Kuhdünger, Pferdeäpfel mischen", sagt Wadii Serhane. Das pure Glück spricht aus seinen Augen.

Anja Serhane schwebte zunächst ein Garten nur für Bienen und Hummeln vor. Auch mit dieser Leidenschaft hat sie ihren Mann infiziert: Drei Bienenvölker hält der Wirtschaftswissenschaftler - artgerecht: Den Honig dürfen die Tiere behalten. "Inzwischen bauen wir alles an, was im Bioladen teuer ist, Salat, Kräuter", sagt Anja Serhane und fügt hinzu: "Wir haben viel experimentiert, haben Schnecken- und Unkrautinvasionen erlebt. Seit wir Gärtnern ohne Umgraben, die No dig-Methode anwenden, Permakultur betreiben und ausschließlich ökologisches Saatgut verwenden, hat sich der Erfolg eingestellt."

Buddel dich fit: Jugendliche bepflanzen ein Hochbeet im Interkulturellen urbanen Garten der Islamischen Gemeinde Wuppertal

"Buddel dich fit": Gemeinsam etwas Produzieren, gemeinsam erleben - Jugendliche bepflanzen ein Hochbeet im "Interkulturellen urbanen Garten" der Islamischen Gemeinde Wuppertal

"Buddel Dich fit" - im Moscheegarten

Wadii Serhane leitet auch das Freizeitprojekt "Buddel dich fit" für Kinder und Jugendliche im interkulturellen Garten auf einem Moscheegelände und auf einem Spielplatz - mit fachlicher Unterstützung seiner Frau. Die 16-jährige Alae hat dafür in Hochbeeten Salat, Kräuter und Kürbisse gesät. "Im Winter schauen wir Filme über urbanes Gärtnern und Saatgut. Im Frühling säen wir und im Herbst teilen die Kinder die Ernte mit erwachsenen Gemeindemitgliedern. Das ist immer ein tolles Erlebnis", sagt Wadii. Und erinnert sich besonders an die Rückmeldung einer Jugendlichen, die zu ihm sagte: "Onkel, ich fühle mich bei der gemeinsamen Gartenarbeit wie in Marokko. Diese Bemerkung hat bei mir starke Gefühle ausgelöst und mich bestärkt, weiterzumachen." 

Anja und Wadii Serhane finden Erfüllung darin, ihre Erfahrungen und die Begeisterung für das ökologische Gärtnern weiterzugeben. Und Alae hat angefangen, auf dem Balkon zuhause Kräuter zu säen: "Mein Vater ist ganz begeistert: Nun ist er auf der Suche nach einem Schrebergarten."


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