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Geiseln zwischen Krieg und Alltag

Christian Ignatzi7. September 2013

259 Tage waren die Schweizer Daniela Widmer und David Och Gefangene der Taliban. Dann konnten sie fliehen. Heute versuchen sie in der Schweiz ein geregeltes Leben zu führen - das gelingt aber nicht immer.

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David Och und Daniela Widmer nach ihrer Freilassung. (Foto: Getty)
Bild: Farooq Naeem/AFP/Getty Images

"Das größte menschliche Gut ist die Selbstbestimmung", sagt die Stimme Reinhold Messners aus dem Autoradio. Die Schweizer Daniela Widmer (30) und David Och (33) hören den Podcast des Extrembergsteigers aus Südtirol auf dem Rückweg von ihrer viermonatigen Reise. Einen Lebenstraum haben sie sich erfüllt: Einmal zum Himalaya und zurück. Auf dem Landweg. In einem zum Wohnwagen umgebauten Kleinbus. Am letzten Junitag sind sie auf dem Weg durch Pakistan und machen sich keine Gedanken über Messners Worte. Einen Tag später ist es mit ihrer Selbstbestimmung vorbei.

Als sie in der Nähe des Dorfs Loralai kurz anhalten, werden sie von Taliban entführt. Tage- und Nächtelang mussten sie durch Wüste und Gebirge wandern, bis sie schließlich in der Taliban-Hochburg in Waziristan landen. Monate der Angst vergehen, in denen sie jeden Tag hoffen, nicht getötet zu werden. Angst haben sie nicht nur vor ihren Entführern, sondern auch vor deren Feinden. "Wir lebten direkt mit potenziellen Zielen der Amerikaner zusammen", erinnert sich David Och im Gespräch mit der Deutschen Welle. Fünf bis acht Drohnen surrten täglich über ihren Köpfen umher. Nachts viel tiefer. Viel näher. Bedrohlicher. Trotzdem gab es auch Lichtblicke: Handgreiflich wurden die Taliban ihren Geiseln gegenüber nicht. "Wir waren sehr wichtig für sie, deshalb haben sie uns auch vergleichsweise gut behandelt", sagt David Och. Dazu gehörte besseres Essen. Außerdem hätten die Entführer Respekt vor Daniela Widmer gehabt, obwohl sie eine Frau ist.

Trockenes Brot und kleine Kartoffeln

Als sie für mehrere Monate auf den Hof eines Taliban namens Lala kamen, lebten sie mit seiner Familie zusammen. "Wir haben dort das normale Leben, den Alltag dieser Menschen erlebt", sagt David. Die Geiseln bekamen ein eigenes Zimmer und durften mit der Familie essen. Vier Frauen und sieben Kinder, die zusammen trockenes Brot, sechs bis sieben kleine Kartoffeln und Wasser zum Mittagessen hatten. Selten gab es Innereien oder Fettstücke. "Der Hausherr schlug sich auswärts immer den Bauch voll", erinnert sich Daniela. "Die Kinder haben mit Innereien von Tieren auf dem Boden gespielt, bevor die einfach in den Kochtopf kamen." Durchgehend hatten die beiden Geiseln Durchfall und Mageninfekte, sagt David, der außerdem mehrfach an Malaria erkrankt war und erst nach seiner Rückkehr in die Schweiz vollständig gesundete.

Taliban-Kämpfer in Afghanistan (Foto: imago stock&people)
Taliban-Kämpfer besetzen Gebiete in PakistanBild: imago stock&people

Frauen und Kinder leben selbst wie Gefangene

Den Frauen und Kindern der Taliban ging es ähnlich wie den Entführten. "Auch sie waren in dem Hof eingesperrt und durften ihn niemals verlassen. Sie waren gegeißelt wie wir", sagt Daniela. Ein Mikrokosmos, in dem sich das gesamte Leben abspielt. "Warum weinst du", habe eine der Frauen sie einmal auf Paschtu gefragt, jener Sprache, von der die Schweizer während der Gefangennahme knapp 300 Wörter lernten, "wir dürfen hier doch auch nicht raus." Unvorstellbar scheint für die Frauen die westliche Welt, in der es fließend Wasser und endlos Strom gibt. "Einmal fragte eine mich, ob ich die Wäsche zu Hause genauso wasche wie sie", sagt Daniela. Mit einer schmutzigen Bürste, in schmutzigem Wasser in einer kleinen Schale. "Ja", antwortete sie, weil sie sich nicht traute, die Wahrheit zu sagen.

Auch Bildung gibt es für die meisten Taliban nicht. "Bei einer Mondfinsternis bekamen sie Angst, warfen sich zu Boden und begannen zu beten", erinnert sich Daniela und erzählt von improvisierten Erdkundekursen, die sie den Kindern gab: Pakistan, Afghanistan, die Vereinigten Staaten von Amerika und Indien, das Land des Cricketsports, kannten sie. Mehr nicht. "Wir haben ihnen aufgezeichnet, wo wir herkommen, wo die USA liegen und wo ihr Land", sagt David. "Dass ein großes Meer zwischen dem Feind und ihnen liegt. Was ein Meer überhaupt ist, war für sie unvorstellbar."

In der Schweiz: Debatte über Fahrlässigkeit

Während Daniela Widmer und David Och in Pakistan um ihr Leben fürchteten, setzten ihre Familien und die Regierung in der Heimat alle Hebel in Bewegung, um sie zu retten. Die Regierung bildete eine Task-Force und verhandelte mit den Geiselnehmern. In dem Buch, das das Paar nun veröffentlicht hat, danken sie dem Staat aber nicht. "Warum sollten wir das tun, wir haben uns selbst befreit", sagt Daniela Widmer, die sich über die Polemik in ihrer Heimat ärgert. Die Geiselnahme trat eine große Debatte los, viele empörten sich über die Fahrlässigkeit, mit einem Kleinbus durch Pakistan zu fahren. Alles unberechtigt, wehrt sich Daniela im DW-Gespräch: "Wir haben uns nicht absichtlich in Gefahr begeben. Wir haben uns informiert und erfahren, dass seit sieben Jahren kein Tourist mehr in Pakistan entführt worden war." Bis zum 1. Juli 2011.

David Och und Daniela Widmer nach ihrer Freilassung. (Foto: Getty)
David Och und Daniela Widmer in der HeimatBild: Christian Hartmann/AFP/Getty Images

259 Tage waren vergangen, als die Entführer ihre Forderung von 50 Millionen Dollar auf 50 Milliarden hochschraubten. Da beschlossen die beiden gelernten Polizisten zu fliehen. Schon seit Wochen hatten sie sich akribisch vorbereitet. Sie hatten Proviant gesammelt, den Ausbruch geprobt, Türen geölt, Handgranaten gefunden und auf eine Neumond-Nacht gewartet. Dann war es soweit. In einer Nacht- und Nebelaktion türmten sie zu einem Stützpunkt der pakistanischen Armee und wurden schließlich ausgeflogen.

Rückkehr in ein normales Leben

Heute versuchen sie, ein normales Leben zu führen. "Klar schweißt so ein Erlebnis zusammen", sagt David. Auf der anderen Seite erinnerten sie sich leider automatisch gegenseitig immer wieder aufs Neue an diese schreckliche Zeit. Um ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen, entschieden sie sich schließlich, ihre Erinnerungen in einem Buch zu veröffentlichen. Noch immer kann Daniela Widmer ihre Geschichte nicht erzählen, ohne dass sie irgendwann in Tränen ausbricht. Zu tief sitzt noch immer das Trauma. Eines habe sie aber in den Monaten der Gefangenschaft gelernt: "Das größte menschliche Gut ist die Selbstbestimmung."