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Gazprom zeigt Europa seine Marktmacht

9. Juli 2021

Der russische Staatskonzern liefert viel weniger Gas in die EU, als er könnte. Baut Russland politischen Druck auf, um die Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2 durchzusetzen?

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Arbeiter dreht am Absperrventil einer Gasleitung
Dreht Russland mal wieder am Gashahn einer Pipeline? Bild: Reuters/G. Garanich

Auf dem europäischen Gasmarkt braut sich gerade etwas zusammen. Nach einem langen und kalten Winter sind die Erdgasspeicher ungewöhnlich leer und sollten eigentlich im Eiltempo aufgefüllt werden. Der staatliche russische Konzern Gazprom könnte seine Liefermengen erhöhen. Doch der Markführer tut das nicht, obwohl die Preise kürzlich ein 13-Jahreshoch erreichten. Somit wächst die Gefahr, dass Europa ohne ausreichende Gasreserven in den nächsten Winter geht.

Kein zusätzlicher Transit durch die Ukraine trotz absehbarer Lieferausfälle

Vor diesen Hintergrund macht die Meldung hellhörig, dass Gazprom für den Juli keine zusätzlichen Kapazitäten für den Transit durch die Ukraine gebucht hat, obwohl die Lieferungen von russischem Erdgas in die EU in diesem Monat um mehr als zwei Milliarden Kubikmeter zurückgehen werden. Denn wegen planmäßiger Wartungsarbeiten fallen zeitweise die beiden anderen Transportwege nach Deutschland weg: Die Jamal-Pipeline durch Belarus und Polen wurde für diese Woche gestoppt; der Transport durch die viel größere Pipeline Nord Stream durch die Ostsee wird vom 13. bis zum 23.Juli stillstehen.

Es stellt sich die Frage, was Gazprom mit dieser offensichtlichen Angebotsverknappung bezweckt. Sollen die Preise gepusht werden, so wie Russland dies auch auf dem Ölmarkt tut, indem es zusammen mit der OPEC die Förderung und somit auch den Export drosselt?

Russisches Verlegeschiff "Fortuna"
"Fortuna" ist eines der beiden russischen Verlegeschiffe, die die Nord Stream 2 gegenwärtig zu Ende bauen Bild: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/picture alliance

"Es scheint, dass Gazprom nicht nur die Preise und Mengen optimiert, sondern vielmehr Druck ausübt, um die Fertigstellung der Nord-Stream-2-Pipeline zu sichern", stellt in seinem Gasmarkt-Report der Chef des Berliner Beratungsunternehmens Ganexo, Joachim Endress, fest.

Gazprom seinerseits beharrt darauf, allen Verpflichtungen nachzukommen. "Die Grundlage unseres Geschäfts in Europa bilden Langfristverträge. Wir erfüllen strikt die Bestellungen unserer Kunden und buchen entsprechend die Transportkapazitäten, nicht umgekehrt", teilte die Pressestelle des Konzerns auf DW-Anfrage mit. 

Ungewöhnlich leere Erdgasspeicher in Deutschland und Österreich

Die Erfüllung der Verträge durch Gazprom werde ja gar nicht angezweifelt, die Frage sei, warum der Konzern trotz hoher Nachfrage und Preise seine Lieferungen nach Europa nicht ausweitet und wie genau er seinen Verpflichtungen nachkommt, betonte im DW-Gespräch der unabhängige Berliner Gasmarktexperte Heiko Lohmann.

Heiko Lohmann Gasexperte
Gasmarktexperte Heiko LohmannBild: privat

"Was auffallend ist, und das ist wirklich ein Novum: Gazprom erfüllt seine Verträge offensichtlich dadurch, dass deutlich mehr als üblich Gas aus den Speichern in Europa genommen wird und möglicherweise sogar durch den Zukauf von Handelsmengen auf dem europäischen Markt. Das höre ich zumindest von den Händlern", berichtet Heiko Lohmann.

Dieses Vorgehen hat dazu geführt, dass die beiden wichtigsten europäischen Gazprom-Speicher - im deutschen Rehden, der größte in der EU, und im österreichischen Haidach - Anfang des Sommers nahezu komplett leer waren und mit ihrem Auffüllen gerade erst begonnen wurde. "Das ist völlig unüblich für Gazprom und schreit nach einer politischen Interpretation", meint der Experte.

Presseagentur "Nowosti": Ohne Russland keine Versorgungssicherheit 

Eine solche Interpretation kann man mühelos in den offiziellen russischen Medien finden. Die staatliche Presseagentur Nowosti hat für die Strategie und Taktik des staatlichen russischen Gaskonzerns folgende Erklärung: "Bei der Einschätzung jeglicher Handlungen der Firma auf dem europäischen Markt sollte man ständig die entscheidende Tatsache im Kopf behalten: Gazprom muss den Bau der Pipeline Nord Stream 2 zu Ende bringen."

Österreich | Erdgasspeicher Haidach bei Salzburg
In Österreichs größtem Erdgasspeicher in Haidach bei Salzburg wird russisches Gas gelagertBild: Andrey Gurkov/DW

In dem Beitrag wird unumwunden anerkannt, dass "Russland seine Lieferungen zurückhält", und zwar nicht nur mit dem Ziel, die eigenen Kassen und die des Staates aufzufüllen. "Das zweite und nicht minder wichtige Ziel besteht darin, unsere westlichen Partner an den offensichtlichen Gedanken zu gewöhnen: die Gewährleistung ihrer eigenen Versorgungssicherheit ist nur in enger Partnerschaft mit Russland möglich". 

Diese "Gewöhnung westlicher Partner" soll, wie es scheint, so gewährleistet werden: Europa bekommt über die Ukraine nur so viel Gas, wie der Ende 2019 abgeschlossenen russisch-ukrainische fünfjährige Transitvertrag vorsieht. Für Gazprom macht es keinen Sinn, weniger zu pumpen, denn der gebuchte Umfang muss so oder so komplett bezahlt werden, der Konzern will aber auch keine weiteren Kapazitäten zu einem viel teureren Tarif dazubuchen.

Politischer Druck aus Moskau zugunsten der Nord Stream 2? 

Nun ist in dem Vertrag allerdings festgeschrieben, dass im ersten Jahr, 2020, die Transitmengen 65 Milliarden Kubikmeter betragen sollen, sie aber danach, 2021 bis 2024, auf jährlich 40 Milliarden Kubikmeter zurückgehen, da bei Vertragsabschluss Gazprom von einer baldigen Fertigstellung der Nord Stream 2 ausging, was von den US-Sanktionen vereitelt wurde.

Ukraine Gaspipeline Ventile
Eine Gaskompressorstation nahe Kiew: hier wird russisches Gas Richtung EU gepumptBild: Imago/Zuma

Daher die jetzige Situation: Europa bekommt auf dem Weg über die Ukraine deutlich weniger Gas, als eigentlich nötig wäre, Gazprom bleibt dabei vertragstreu, indem er seine europäischen Speicher leersaugt, gleichzeitig leistet sich der Konzern eine längere Wartung gleich zweier Pipelines in Richtung EU. 

Im Endeffekt könnte dies alles darauf hinauslaufen, dass irgendwann im Herbst, vielleicht im September, der russische Staatskonzern die Europäer vor die Wahl stellt: Entweder ihr erteilt der (bis dahin wohl fertiggestellten) Nord Stream 2 mit einer Kapazität von 55 Milliarden Kubikmeter ganz schnell die Betriebserlaubnis - oder ihr bekommt im nahenden Winter große Probleme bei der Gasversorgung, denn unsere Speicher sind immer noch halbleer, und die Liefermengen durch die Ukraine wollen wir nicht erhöhen.

Es geht auch um die Rolle von Erdgas bei der Dekarbonisierung

Für dieses mutmaßliche Szenario spricht die Tatsache, dass Gazprom am 5. Juli bei einer Versteigerung keine zusätzlichen Transitkapazitäten für ein Jahr im Voraus weder in der Ukraine noch in Polen buchen wollte mit der Begründung, man könne das ja immer noch monatlich oder quartalsweise tun. Dies sieht nach einem weiteren unmissverständlichen Signal aus, dass der russische Staatskonzern ab Herbst 2021 beabsichtigt, den erhöhten Gasbedarf in Europa lediglich über die eigene neue Pipeline in der Ostsee zu bedienen.

Fridays for Future Demonstration in Köln
Ein Befürworter des Ausstiegs aus der Erdgasnutzung bei einer Fridays for Future Demonstration in Köln Bild: Gero Rueter/DW

Heiko Lohmann, der sich selbst einen Verfechter von Nord Stream 2 nennt ("Es wäre für Europa deutlich komfortabler, diese Pipeline zu haben"), will an die Möglichkeit eines so offensichtlichen Erpressungsversuchs vorerst nicht glauben: "Bisher hat Gazprom auf seine westeuropäischen Abnehmerländer eigentlich nie politischen Druck ausgeübt, zumindest ist es nie bekannt geworden. Wenn jetzt erstmals ein Präzedenzfall auftreten sollte, wäre das in der politischen Diskussion für Gazprom verheerend."

Denn sollte Gazprom im Herbst tatsächlich anfangen, "ostentativ Druck auszuüben", würde das die ohnehin hitzige Diskussion in Europa über die kurz-, mittel- und langfristige Rolle von Gas im Rahmen der Dekarbonisierung enorm befeuern und die Position all jener stärken, die für einen sehr viel schnelleren Ausstieg aus der Erdgasnutzung eintreten, so der Experte im Gespräch mit der DW. Doch zuerst einmal hätte Europa ein ernst zu nehmendes Versorgungsproblem.

Deutschland: Nord Stream 2 - Kampf ums Gas