Gabriel will Flüchtlingsverteilung ändern
19. Mai 2016Unkonventionelle Ideen seien nötig, um bei der Flüchtlingsverteilung "aus der verfahrenen Lage herauszukommen", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel der Wochenzeitung "Die Zeit". Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan, hatte unter anderem die Idee, dass sich europäische Städte und Kommunen direkt bei der EU um Flüchtlinge und entsprechende Fördermittel freiwillig "bewerben" sollen. Alle Mitgliedsstaaten würden dann in einen gemeinsamen Fonds einzahlen, den die EU-Kommission überwacht.
Ökonomische Anreize
Die Idee, bei der Verteilung der Flüchtlinge "stärker auf Anreize als auf Strafen zu setzen", sei sehr sinnvoll, meint der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück. Ob auf der Ebene der Kommunen oder der Länder - Strafen für eine Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, seien problematisch: Man müsse aufhören, so zu tun, als wolle man "die Pest verteilen".
Das neue Konzept wird unter anderem mit dem Argument beworben, dass so auch einzelne Städte und Gemeinden Flüchtlinge aufnehmen können, deren nationale Regierungen sich gegen die Aufnahme von Asylbewerben ausgesprochen haben. Das ist zum Beispiel in Polen der Fall. Oltmer hält das für schwierig: "Die Mitgliedsländer dürfen bei der Verteilung nicht umgangen werden." Die Förderung von Kommunen unmittelbar anzusprechen, könne eine Ergänzung, aber nicht der einzige Weg sein. Sie einzubringen, sei dennoch sinnvoll: "Kommunen wissen selbst am besten, was vor Ort möglich und nötig ist."
Informationsdefizite auf beiden Seiten
Dem neuen Vorschlag nach können Flüchtlinge mitentscheiden, in welche Stadt sie ziehen. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sieht hier auf beiden Seiten einen Informationsmangel. "Die Kommunen bräuchten dann Informationen über die Flüchtlinge, die sie aufnehmen, beispielsweise über deren Schulabschlüsse. Außerdem wissen die Flüchtlinge wohl nur wenig über die kleinen Orte, in denen sie leben sollen." Solche Informationsdefizite führen möglicherweise zu einer ineffizienten Verteilung.
Oltmer sieht hier hingegen eine Chance für kleine Orte, für sich zu werben: "Bei der Aussiedlerzuwanderung in den 1990er Jahren sind am Ende viele in ländlichen Distrikten gelandet, weil die Kommunen aktiv Siedlungspolitik betrieben haben. Damals standen auch Fördermittel zur Verfügung." Besonders schwierig werde es, wenn man bei der Verteilung die Netzwerke unter Flüchtlingen berücksichtigt: Schließlich möchten die meisten dorthin, wo sie bereits Verwandte haben.
Außerdem sei die Handlungsfähigkeit der Gemeinden in Europa sehr unterschiedlich. "Ich habe bei dem Vorschlag den Eindruck, dass die Vorstellung des deutschen kommunalen Systems auf Europa übertragen wird. Das funktioniert so nicht", meint Oltmer.
"Versteigerung" von Flüchtlingen?
Auch Brücker kann sich einen solchen "Matching-Prozess" in der Praxis schwer vorstellen. Zudem sei zu befürchten, dass sich nur Kommunen aus vergleichsweise armen Staaten um die Aufnahme von Flüchtlingen und die entsprechenden Fördergelder bewerben. Wenn die EU-Zuschüsse unter der durchschnittlichen finanziellen Zuwendung für Asylbewerber in einem bestimmten Land liegen, werde es kaum zu "Bewerbungen" um Flüchtlinge kommen. Nur wenn das umgekehrt sei, werde man sich dazu bereit erklären, "weil nur dann Gewinne gemacht werden", gibt Brücker zu bedenken.
Doch in reichen Ländern sei die Arbeitsproduktivität höher, "so dass langfristig beide Seiten mehr davon profitieren, wenn Flüchtlinge in reiche Länder und Regionen wandern", sagt Brücker. Es sei auch wichtig zu wissen, wie hoch die Mittel jeweils sein werden und wie viele Flüchtlinge überhaupt aufgenommen werden sollen.
Die faire Verteilung von Flüchtlingen auf europäischer Ebene sorgt schon lange für Streit in der EU. Ob der neue Vorschlag überhaupt Chancen hat, ist allerdings fraglich.