1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Das Ende der Ära Xi wird denkbar

Alexander Görlach - Carnegie Council for Ethics in International Affairs
Alexander Görlach
29. November 2022

Proteste und Demonstrationen dieser Größenordnung hat China seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Und immer deutlicher steht die Person des Staats- und Parteichefs Xi im Zentrum der Kritik, meint Alexander Görlach.

https://p.dw.com/p/4KFlR
Junge Demonstranten mit Mundschutz in China halten weiße Blätter hoch
Weiße Blätter sind zum Zeichen des Protests gegen die Null-COVID-Politik in China gewordenBild: Koki Kataoka/Yomiuri Shimbun/AP Photo/picture alliance

Die Bilder, die um die Welt gehen, sind erstaunlich: Zum ersten Mal seit den Demokratie-Protesten im Jahr 1989 formiert sich in der Volksrepublik Widerstand gegen die Politik der Kommunistischen Partei und gegen Machthaber Xi Jinping persönlich. Die Menschen skandieren "China braucht keinen Kaiser" oder "Gib mir Freiheit oder bring mir den Tod!"

Machthaber Xi, der sich erst im Oktober eine dritte Amtszeit gesichert und damit das Tor zu lebenslanger Herrschaft aufgestoßen hat, steht düpiert da. Die Antwort des Regimes ließ daher nicht lange auf sich warten: In der Nacht zum Dienstag verhinderte ein massives Polizeiaufgebot in Shanghai und Peking, dass sich Menschen wieder versammeln konnten.

Die KP will das Feuer des Protests austreten

In unmittelbarer Nähe der Orte von Demonstrationen wurden die Handys der Menschen kontrolliert, um zu sehen, ob sich Videos oder Fotos der Proteste darauf befinden. Die Behörden haben auch - wahrscheinlich durch Gesichtserkennung - herausgefunden, wer an den Demonstrationen teilgenommen hat. Die Polizei hat diese Menschen zu Hause aufgesucht und verhört. Zudem werden Journalisten verhaftet, die über die Proteste berichten. Universitäten in Peking und der Provinz Guangdong schicken ihre Studierenden nach Hause, in eine Art Sonderferien. Damit sollen sie von weiteren Aktionen wie Nachtwachen abgehalten werden. Es steht zu erwarten, dass jene, die auf dem Campus bleiben, mit Strafen rechnen müssen. 

Autorenbild | Alexander Görlach
DW-Kolumnist Alexander GörlachBild: Hong Kiu Cheng

Der Unterschied zu den Protesten vor 33 Jahren ist, dass bislang nur wenige Tausend Menschen daran teilgenommen haben. Die Führung geht daher anscheinend davon aus, das Feuer, das sie zu entzünden drohen, auszutreten zu können. Überhaupt dürften die Proteste die Reihen der 94 Millionen Mitglieder der Kommunistischen Partei enger schließen. Gleichzeitig zeigen die Proteste aber auch, dass viele der Lügen, die die Führung den Menschen täglich auftischt, nicht mehr verfangen. 

So ist das routinemäßige Beschuldigen des Auslands mittlerweile zu einer Standardfloskel Xis geworden, über die auch die Demonstranten lachen. Der 'Guardian' zitiert eine Person, die an den Protesten in Peking teilgenommen hat, mit den Worten: "Wir können nicht ins Ausland reisen, wir dürfen keine ausländischen Medien konsumieren. Wie sollen wir da vom Ausland angestiftet werden?" Andere stimmen ein, allerdings mit einem ernsteren Ton: "Das Feuer in Ürümqi, waren das ausländische Kräfte?", "Das Busunglück in Guizhou, ist dafür das Ausland verantwortlich?" In Ürümqi kamen zehn Menschen bei einem Brand ums Leben; in Guizhou starben 27 Personen, als ein Quarantäne-Bus in einen Unfall geriet. Die Demonstrierenden klagen, dass die Menschen in erster Linie aufgrund der COVID-Maßnahmen ihr Leben lassen mussten und machen die KP und Xi persönlich dafür verantwortlich. 

Xi Jinping hat sich verrannt

An den Demonstrationen beteiligen sich Studierende und Werktätige gleichermaßen. Auf dem Campus rufen sie "Nieder mit der KP!", auf der Straße "Kein PCR-Test! Freiheit!" Ihre Rufe bezeugen, dass Machthaber Xi Jinping sich mit seiner "Null COVID"-Strategie verrannt hat. Das ist seiner Ideologie geschuldet: China als das Reich der Mitte braucht nach seiner ultra-nationalistischer Erzählung den Rest der Welt nicht. Die Welt hingegen kommt ohne China nicht aus. Es sei Xis vom Weltschicksal vorherbestimmte Aufgabe, die Volksrepublik an den ihr zustehenden Ort im Zentrum des Weltgeschehens zurück zu führen.

Kette von Polizeibeamten auf dunkler Straße in Peking
Vor allem mit enormer Polizeipräsenz versucht die chinesische Führung weitere Proteste zu unterdrückenBild: Kevin Frayer/Getty Images

Wer so denkt und redet, der kann keine ausländischen Impfstoffe kaufen und so durch effektive Impfkampagnen den Grundstein für das Ende von Quarantäne und Einschränkungen legen. Deshalb bleiben die Menschen nach Xi Jinpings Willen bis zu 100 Tage isoliert in ihren Wohnungen eingeschlossen, wenn ein Lockdown ausgerufen wird. Die Dimension dieser Lockdowns ist immer noch immens: Am 23. November waren waren 415 Millionen Menschen im Lockdown, eine Woche zuvor 340 Millionen, bei nur 28.000 Neuinfektionen pro Tag.

Nicht die ersten Proteste in diesem Jahr

Die Bilder, die derzeit auf Smartphones und Bildschirmen in der gesamten Welt zu sehen sind, zeigen allerdings nicht die ersten Proteste gegen die Regierung Xi in diesem Jahr. Nicht-Regierungsorganisationen haben seit 18. Mai diesen Jahres bis zu 735 Demonstrationen gezählt, allerdings waren davon nur etwa rund 50 gegen die Corona-Maßnahmen gerichtet. Rund 230 Proteste gab es, als im Frühsommer die Immobilienblase platzte und Abertausenden befürchten mussten, ihre Ersparnisse, die sie in Wohnungen gesteckt hatten, zu verlieren. Weitere Gründe für Proteste waren eine Bankenkrise, im Zuge derer Sparer kein Geld mehr abheben konnten. Und: Aufgrund der COVID-Pandemie liegt die Wirtschaft am Boden, weswegen die Jugendarbeitslosigkeit in China mit rund 20 Prozent so hoch ist, wie seit Menschengedenken nicht. Das Magazin 'The Economist' hat die verschiedenen Daten zusammengetragen und aufbereitet.

Am Dienstag haben sich die Demonstrierenden zurückgezogen, ein Punktsieg für die Partei. Doch es gibt Hoffnung: Während der Jubelveranstaltung der KP im Oktober entrollte ein einzelner Protestierender ein Banner an einer Brücke in Peking und forderte darauf, den "Diktator und Verräter Xi" aus dem Amt zu jagen. Das Banner wurde behupt und beklatscht. Aus einer mutigen Person sind in nur sechs Wochen einige Tausend mutige Menschen geworden. Nächste Woche könnten es Hunderttausende, in einem Monat Millionen sein. Sollte sich nichts Substanzielles an der COVID-Politik der Nomenklatura ändern, werden die Proteste weitergehen und die Gewalt eskalieren. Je lauter der Ruf nach Freiheit wird, umso denkbarer wird ein Ende der Ära Xi. 

Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Research Associate am Internet Institut der Universität Oxford. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne.