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Politik

Christen als willkommener Sündenbock

Alexander Görlach
23. Juni 2020

Gegenwärtig steht eine der ältesten christlichen Kirchen der Welt überhaupt unter extremem Druck seitens des türkischen Staates. Das ist kein gutes Zeichen für die Zukunft, meint Alexander Görlach.

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DW Zitattafel | Alexander Görlach | Türkei, Christentum

Die Verfolgung der Christen in der Türkei geht weiter. Während die Welt damit beschäftigt ist, COVID-19 zu bekämpfen, Massenarbeitslosigkeit und eine weltweite Rezession zu meistern, nutzt die türkische Regierung die Situation, um Minderheiten weiter zu bedrängen. Die Marginalisierung der Christen in der Türkei ist nicht neu auf der Agenda von Präsident Erdogan: Er organisiert die laizistische Republik schon seit langem in eine Mischung aus Osmanentum und Islam um. 

In der jüngeren Vergangenheit mussten vor allem die syrisch-aramäischen Christen im Südosten des Landes um Recht und Besitz fürchten. Diese Glaubensgmeinschaft ist eine der ältesten Kirchen der Welt. Das Aramäische, die Sprache, die von ihnen im Gottesdienst verwendet wird, ist jene, die Christus vermutlich selbst gesprochen hat.

Enteignung von Christen durch die Behörden

Türkische Behörden sind dazu übergegangen, Land, das einer Gemeinde oder Privatpersonen gehört, einfach anderen Besitzern zuzuschreiben und so die Christen zu enteignen. Im Zuge der kriegerischen Konfrontation mit den Kurden sind zudem auch Kirchen in diesem Teil des Landes zerstört worden.

Daneben sind im Norden Syriens im Zuge der türkischen Militäroffensive rund 200.000 Menschen, viele darunter Christen, aus ihren Häusern geflohen und können im Moment aufgrund des Krieges nicht mehr dorthin zurückkehren.

Präsident Erdogan hat zwar zugesagt, die Kirchen wieder aufbauen zu lassen. Die langanhaltende und systematische Benachteiligung der christlichen Minderheit im Land lässt jedoch darauf schließen, dass es ihm mit der Wiederbelebung des christlichen Lebens nicht wirklich ernst ist.

Christen in der Türkei im Stich gelassen
Zerstörte Kirche in Tel Nasri im Nordosten Syriens im Januar 2020. Die christliche Bevölkerung ist geflohen, stattdessen wurden syrische Binnenvertriebene angesiedeltBild: Euskal Fondoa/Andoni Lubaki

Der Fall Sefer Bilecen

Ein Beispiel dafür ist der Fall des Priesters Sefer Bilecen. Der Abt des Klosters Sankt Jakob in der Provinz Mardin (Mêrdîn) im Südosten der Türkei ist seit Januar angeklagt, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Ihm wird zur Last gelegt, kurdischen Kämpfern, die an der Pforte des Klosters anklopften, mit Wasser und Brot versorgt zu haben. Der Priester sagt zu seiner Verteidigung, dass er jeden, der vor der Kirche um Hilfe bitte, versorgen würde - denn dieses sei eine Christenpflicht. Nach Intervention verschiedener Hilfsorganisationen kam er zwar aus dem Gefängnis frei, wartet aber immer noch auf das Urteil in dem seit März laufenden Gerichtsverfahren.

Wenn die Christen auf solche Weise in die Nähe der vom türkischen Staat bekämpften kurdischen Milizen gerückt werden, dürfte das ihre Marginalisierung unter den Anhängern von Präsident Erdogan voran treiben - immerhin rund die Hälfte aller Türken.

Ablenken von Erdogans Misere

Mit einer nationalistischen und islamischen Rhetorik werden die Christen im Land so Schritt für schritt zu einem willkommenen Sündenbock, den das Land braucht. Denn dessen Machthaber hat sich an verschiedenen Fronten in Syrien und Libyen verkalkuliert hat und sucht nun jemanden, um von der Misere abzulenken. Das Geschick Sefer Bilicens, der weiterhin auf sein Urteil wartet, ist exemplarisch für eine Minderheit, deren Zukunft in ihrer Heimat alles andere als sicher ist.

Alexander Görlach lebt in New York und ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.