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Frankreich fühlt noch kein EM-Fieber

Pascal Jochem (aus Paris)24. Juni 2016

Fans aus ganz Europa sorgen für gute Stimmung in Frankreich. Aber warum kann sich die Mehrheit der Franzosen kaum für die EM im eigenen Land begeistern? Auf Spurensuche in Paris.

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Zinedine-Zidane-Plakatwand in Paris. Foto: Pascal Jochem/DW
Erinnerung an Superstar Zinedine Zidane und den WM-Erfolg 1998Bild: DW/P. Jochem

Ganz oben thront Zinedine Zidane, über der Markise eines Second-Hand-Ladens. Die Hand zur Faust geballt, daneben der WM-Pokal. Ein Bild, das an glorreiche Zeiten erinnert. Graffiti-Künstler haben Frankreichs Triumph von 1998 auf einer großen Fläche drei Meter über dem Boden verewigt. Die Farbe ist an einigen Stellen abgeblättert. Direkt gegenüber lächeln die Gesichter der heutigen Spieler-Generation von knallroten Werbe-Plakaten, angebracht an einer Autobahn-Brücke: Paul Pogba, Antoine Griezmann, Kingsley Coman. Sie stehen mit Frankreich im EM-Achtelfinale, aber so etwas wie Euphorie sucht man vergeblich.

Wenn man mit der Metro raus aus der Innenstadt in den Norden von Paris fährt, trifft man viele Fußball-Fans - nicht die grölenden aus der Fanzone, eher die mit Sachkenntnis. Die meisten haben arabische Wurzeln wie Tarik und Marouane. Sie glauben nicht daran, dass Frankreich das Turnier im eigenen Land gewinnt. "Die Mannschaft ist nicht gut genug", sagt Marouane. "Uns fehlt ein großer Star." Die Medien haben sich zu Beginn an Dimitri Payet berauscht, doch hier im 18. Arrondissement wissen alle: Payet ist kein neuer Zidane.

Bezugsfigur fehlt

"Zidane war ein nationaler Held - eine Identifikationsfigur für alle Franzosen, vor allem mit Migrationshintergrund", sagt Joachim Barbier. Der Journalist hat ein Buch über Frankreichs komplizierte Beziehung zum Fußball geschrieben ("Ce Pays Qui N'Aime Pas Le Foot" / "Das Land, das den Fußball nicht liebt"). "Jetzt fehlt ihnen diese Bezugsfigur", erzählt Barbier. Viele interessierten sich nicht für die EM, "weil sie sich nicht in der Mannschaft wiederfinden."

Buchautor Joachim Barbier. Foto: Jonathan Harding/DW
Buchautor Joachim BarbierBild: DW/J. Harding

Das gilt auch für Tarik und Marouane, die ihren Lieblingsspieler Karim Benzema im EM-Aufgebot vermissen. Der Star von Real Madrid hat wie Zidane algerische Wurzeln, doch aus disziplinarischen Gründe ist er von Nationaltrainer Didier Deschamps aus der Nationalelf verbannt worden. Tarik kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. Er lungert vor seinem Sportgeschäft herum und wartet auf Kundschaft. Vor der EM hat er viel Ware eingekauft, die sich nun im Laden stapelt. Das berühmte blaue Trikot mit dem Hahn auf der Brust ist ein Ladenhüter. "Wir dachten die Leute kaufen Trikots, um ihre Teams zu unterstützen. Das ist nicht passiert", sagt Tarik.

Lieber Picknick als Fußball

Die EM ist zwei Wochen alt und geht langsam in die entscheidende Phase, aber Paris lässt sich nichts anmerken. Am Canal Saint-Martin im Osten der Stadt sitzen Jugendliche im Gras beim Picknick. Nur wenige Bars und Cafés zeigen die Spiele - und wenn, dann interessiert das kaum jemanden. Die TV-Experten auf den Flatscreens gehen unter im Geschnatter der Großstadt.

Für Stimmung in Paris sorgen vor allem die angereisten Fans aus ganz Europa. Kroaten, Türken, Iren und Nordiren ziehen dann singend durch die Straßen. Nur wenige Einheimische haben sich vom Enthusiasmus der Gästefans bisher anstecken lassen. “Die Franzosen sind Gelegenheitsfans. Das Team muss gut spielen, weit kommen, und dann sind sie mit dabei”, sagt Journalist Barbier. Aber das soziale Klima sei momentan nicht gut. "Es gibt viele Streiks und Proteste." Auch die Terrornacht vom 13. November spiele noch eine Rolle.

Place de la Republique. Foto: Jonathan Harding/DW
Gedenken an die Terroropfer von Paris an der Place de la RepubliqueBild: DW/J. Harding

Luftballon wird platzen

Zu spüren ist dies am Place de la Republique, ein zentraler Ort der Trauer in Paris. Immer wieder steuern vereinzelt Menschen auf die Bronzestatue von Marianne zu. Sie bleiben am Fuße des Denkmals stehen, halten inne und lesen die kleinen Zettel mit Nachrichten und Sprüchen, die Trauernde in Gedenken an die Terroropfer hinterlassen haben. "Frankreich ist noch nicht nach Feiern zumute", sagt Barbier. Er glaubt nicht daran, dass ein EM-Triumph das Land aus der Krise führen kann. "Für einen kurzen Moment wäre die Nation wieder geeint, aber nach einigen Wochen kehrt die Realität zurück und der Luftballon platzt."