Frankreich: Eine russische Kathedrale in Nizza
Weniger bekannt ist, dass auch die Russen diese Entdeckung für sich beanspruchen können, denn die Mitglieder der Zarenfamilie verbrachten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den Winter hier. Ihre prunkvollen Empfänge haben im Gedächtnis der Einwohner von Nizza Spuren hinterlassen, und bis heute erinnert die russische Kathedrale Saint-Nicolas (St. Nikolaus-Kathedrale) an diese vergangenen Zeiten. Sie ist das meistbesuchte Baudenkmal der Stadt. Das Prestige dieser Kirche reicht so weit, dass der russische Staat nun in einem Rechtsstreit die Kirche als sein Eigentum reklamiert.
"Viele Russen beeindruckten damals durch die luxuriösen Empfänge", sagt Alexis Obolensky, der aus einer aristokratischen, russischen Familie stammt. "Sie luden die ganze Welt an die Côte d’Azur ein, und die Leute hier rieben sich die Hände, weil das natürlich auch die Geschäfte ankurbelte." Obolenskys Familie lehnte die Oktoberrevolution im Jahr 1917 ab. Der mittlerweile emeritierte Universitätsdozent ist Vize-Präsident des russisch-orthodoxen Kulturvereins in Nizza. Seine Großeltern und Eltern waren im Jahre 1921 dorthin ausgewandert.
Eine russische Kolonie entsteht
Die Gründung der russischen Kolonie in Nizza geht auf das Jahr 1856 zurück, als die Zarenwitwe Alexandra Fjodorowna an die Côte d’Azur kam – und in ihrem Gefolge weitere russische Aristokratenfamilien. Sie ermöglichte auch den Bau der ersten russischen Kirche in der Rue Longchamp. 1908 stellte der letzte russische Zar, Nikolaus II., das Gelände der Villa Bermond für den Bau der Kathedrale Saint-Nicolas zur Verfügung, der 1912 vollendet wurde. Der Kulturverein verwaltet zur Zeit dieses Wahrzeichen der russischen Exil-Gemeinschaft.
Ab den 1920er Jahren erreichte Nizza eine neue Migrantenwelle, meist finanziell ruinierte russische Adelige. Diese entwurzelte Gemeinschaft bewahrte einen Teil ihrer Identität mithilfe der orthodoxen Religion. Doch die Kathedrale Saint-Nicolas untersteht nicht dem Patriarchat von Moskau, sondern dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel.
Eine neue Generation
Heute kommt eine andere Generation von Russen an die Côte d’Azur: man nennt sie die "neuen Russen". Sie fallen vor allem dadurch auf, dass sie in den Luxushotels und Kasinos der Promenade des Anglais ein Vermögen verprassen. Aber die Russen, die seit drei Generationen hier sind, haben keinen Kontakt zu ihnen. Sie betrachten die sogenannten "neuen Russen" eher mit Verachtung. Alexis Obolensky lehnt es ab, sie mit den Aristokraten vor 1917 zu vergleichen.
"Diese Russen kaufen heute luxuriöse Residenzen, geben ohne Zweifel Unsummen von Geld aus und lassen sich von Leibwächtern schützen“, stellt Obolensky fest. Sie blieben aber unter sich. Die Zeiten hätten sich geändert: Die Russen damals hätten hier ganz in Ruhe und ohne solche Ängste gelebt. Und das, weil sie ihren Reichtum als legitim empfunden hätte. "Ich glaube, dass viele dieser neuen Russen ihren Reichtum auf sonderbare Art und Weise erlangt haben und es deswegen vorziehen, sich zu schützen", mutmaßt Obolensky.
Kathedrale als Zufluchtsort
In diesem Zusammenhang erscheint die Kathedrale Saint-Nicolas wie ein Refugium für eine Gemeinschaft, die sich nicht mit dem Russland von heute identifizieren kann. Das Bauwerk erhebt sich imposant neben dem Boulevard du Tsarévitch, benannt nach dem Thronfolger Nicolaj Alexandrowitsch, der in Nizza starb und in einer Kapelle hinter der Kathedrale begraben liegt. Im ehemaligen Park der Villa Bermond angekommen, beeindruckt der Baustil der Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen und den glasierten Ziegeln.
Die Regierung in Moskau beansprucht für sich das Besitzrecht, denn das Gebäude der Kathedrale steht auf einem Gelände, das vom Zaren Nikolaus II. zur Verfügung gestellt wurde – und zwar mit einem Erbpachtvertrag mit 99 Jahren Laufzeit. Dieser endet 2007. Russland sieht sich als Rechtsnachfolge des russischen Reichs vor 1917 und hat daher einen Rechtsstreit um die 1987 unter Denkmalschutz gestellte Kathedrale begonnen.
Ungewisse Zukunft
Der ansässige Pater Jean Gueit spricht von einem "abgekarteten Spiel zwischen dem russischen Staat und dem Patriarchat von Moskau". Von der Seite der russischen Ansässigen aus gäbe es keine Ablehnung. Es sei nur bedauerlich, denn in Europa gäbe es eine große Sensibilität, was die Trennung von Staat und Kirche angehe. Hier hätten sie es aber im Gegenteil mit einer engen Verquickung der Russischen Föderation mit dem Patriarchat von Moskau zu tun.
Und in diesem Punkt scheint der Bürgermeister von Nizza, Jacques Peyrat, nachdem er zuerst den russisch-orthodoxen Kulturverein unterstützt hatte, seine Marschroute geändert zu haben: Und zwar, seit er eine Reise nach Moskau unternommen hat. Das Tauziehen um die schöne Kathedrale geht also weiter.