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Fragen: unbeliebt, ungestellt, unbeantwortet

Iryna Shpakouskaya5. Mai 2014

Oma Alevtina hat ihre Schicksalsschläge nie analysiert. Sie war immer genug damit beschäftigt, wieder auf die Beine zu kommen. Ich habe ihr drei Fragen zur Geschichte von Belarus gestellt.

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Oma Alevtina in ihrem Garten (Foto: DW/Tarek Elias)
Bild: DW/T. Elias

Oma, hast du etwas über den Gulag gewusst?

Mit dieser Frage verblüffe ich sie und muss gleich erklären, dass sich hinter der Abkürzung "Gulag" sowjetische Straflager verstecken. Ich formuliere die Frage einfacher: "Wusstest du was über Gefängnisse?" Sie zuckt mit den Schultern. "Menschen wurden eingesperrt. Es gab ja Disziplin bei Stalin. Für fünf Ähren wurde man eingesperrt."

Der Ausdruck "Gesetz der fünf Ähren" ist eine Volkserfindung. Es handelt sich eigentlich um das "Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums". Am 7. August 1932 gibt die Regierung bekannt, dass demjenigen, der die Kolchose bestiehlt, die Todesstrafe oder mehr als zehn Jahre Gefängnis drohen. Das Gesetz führt zu massenhaften Verhaftungen, deren Gründe oft so nichtig sind, dass die Regierung bald "Übertreibungen" zugeben muss. 1936 kommt es bereits zu ersten Rehabilitierungen. Tausende zu Unrecht verurteilte Menschen kehren nach Hause zurück.

"Wenn der Vorgesetzte nicht guckte, konnte man ein paar Ähren verstecken, um sie später zu essen", erzählt Oma. Sie tut, was viele andere Menschen tun. Nach dem Krieg herrscht Hunger im Land. Das Fünf-Ähren-Gesetz wird 1947 durch neue Anti-Diebstahl-Dekrete ersetzt.Doch das entschärft die Situation nicht.

Schlafbaracke im Gulag Panischewski (Foto: Picture-alliance/akg)
Die Gulag-Lager waren im Wirtschaftsplan der UdSSR als Produktionseinheiten eingeplantBild: picture-alliance/akg

"Bis 1953 werden nach bislang zugänglichen Angaben ca. 1,3 Millionen Menschen auf der Basis der Dekrete vom 4. Juni 1947 verurteilt", schreibt die Historikerin Beate Fieserer im Projekt "100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte". Die Menschen kommen in die Lager des Gulags. Jedes Jahr sterben dort tausende Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen. Erst 1960 wird dieses Gefängnissystem aufgelöst.

Wie kam es zur Inflation in den 90er Jahren?

Dass meine Großeltern ihre gesamten Ersparnisse verloren haben, weiß ich bereits. In den 90er Jahren ist das Millionen Menschen in den ehemaligen Sowjetländern passiert. Ich denke, Oma wird mir erklären können, wie es dazu kam. Doch sie winkt ab. "Ich bin ungebildet!" Sie weiß nur, dass die Inflation ihr Geld gefressen hat.

Es geschieht im Januar 1992: Die russische Regierung ordnet eine Preisliberalisierung an. Eigentlich ist das ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der Plan- zur Markwirtschaft. Die Regale in den Lebensmittelgeschäften stehen leer, dem Land droht eine Hungersnot. Doch "die Schocktherapie" in Russland wird nicht auf die Finanzpolitik zugeschnitten. Nach der Preisliberalisierung bleiben die meisten Unternehmen ohne Umsatz. Die Zentralbank muss die Notenpresse einschalten, die Inflationsrate steigt bis Ende des Jahres auf 2600 Prozent.

Der Kreml in Moskau (Foto: DW)
Russland hat 1992 die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten der UdSSR übernommenBild: DW

Zu dieser Zeit existiert die Sowjetunion formal nicht mehr, aber wirtschaftlich sind alle Länder stark an das alte System gebunden. Der belorussische Rubel wird erst im Mai 1992 eingeführt, als die Sparguthaben in sowjetischen Rubel ihren Wert großenteils verloren haben.

Es gibt Proteste gegen diese Reform. Aber Oma bringt das so auf den Punkt: "Protestiere oder protestiere nicht - das Geld ist weg und wird nicht zurückkehren."

Oma, weißt du, was ein Diktator ist?

Sie lächelt: "Das weiß ich nicht, weil in der Schule haben wir das nicht gelernt." Ich frage sie nicht, ob Lukaschenko ein Diktator ist. In ihren Augen ist er keiner. Dass der Westen Lukaschenko so bezeichnet, weiß sie wohl auch nicht. Sie persönlich unterstützt ihn - so wie viele andere auch. Nach Angaben des IISEPS (Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies) sind es im März 2014 insgesamt etwa 39,8 Prozent der Wählerschaft. In der Meinungsumfrage stellt das belarussische Institut mit Sitz im Vilnius außerdem fest, dass Lukaschenko in dem letzten Dreimonatsrating ein Plus von fünf Prozentpunkten erzielt hat.

Der Analytiker der unabhängigen Nachrichtenagentur BelaPAN, Alexandr Klaskovskij, verbindet diesen Popularitätssprung mit den Ereignissen in der Ukraine. Und das stimmt wohl: Die Belarussen wollen keinen Maidan in ihrem Land. Das bestätigt eine weitere Umfrage von IISEPS im März 2014: "Wünschen Sie sich, dass das, was in der Ukraine passiert, so oder so ähnlich auch in Belarus geschieht?" Nur 3,6 Prozent der Befragten antworten mit ja.

Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in Berlin (Foto: Imago)
Swetlana Alexijewitsch schreibt Dokumentarprosa über die Zeit der SowjetunionBild: Imago

Die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, sagt in ihrem Interview mit der Deutschen Welle: "Als ich gesehen habe, wie mutig die Ukrainer waren, wie diese jungen Leute umkamen, hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits empfand ich Stolz und Bewunderung, anderseits war der Preis dafür viel zu hoch. Mir gefallen die Revolutionen nicht. Ich bin für langsame Entwicklungsprozesse."

Vorrangig geht es den Belarussen darum, ihren Frieden zu haben. "Bloß keinen Krieg", sagen sie oft. Dafür sind sie bereit, vieles in Kauf zu nehmen. Denn während des Zweiten Weltkriegs starb in Belarus jeder fünfte Mensch. Die Erinnerung an diese Zeiten lebt heute noch in den Köpfen der Menschen weiter.