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PolitikEuropa

Fokuswechsel nach dem Brexit

Vera Tellmann
6. April 2021

"Ein Wiedereintritt des Vereinigten Königreichs in die EU wird – wenn überhaupt – lange brauchen, ich fürchte, dass ich ihn nicht mehr erlebe. Er könnte gut 30 Jahre dauern", so die britische Abgeordnete Wera Hobhouse.

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Wera Hobhouse für Weltzeit
Bild: Mick Yates

Geradlinig, rational und – der aktuellen Situation ihres Landes zum Trotz – gut gelaunt wirft die britische Abgeordnete Wera Hobhouse für diese Weltzeit-Ausgabe einen Blick zurück auf die politischen Entwicklungen im Vereinigten Königreich seit 2019. Und erläutert, für welches Thema sie sich künftig primär engagieren will.

"Der Brexit ist ein historischer Fehler. Dass ich und gleichgesinnte Brexit-Gegner ihn nicht stoppen konnten, empfinde ich auch als persönliche Niederlage", schildert Hobhouse das politische Dilemma, das mit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 begann. "Referenda müssen eine einfache 'Ja'- oder 'Nein'-Entscheidung sein, sonst entsteht ein entsetzliches Kuddelmuddel." Das Brexit-Referendum hingegen habe eine zusätzliche Alternative beinhaltet, über die ein "konfuser politischer Diskurs entbrannte". Die Diskussionen über den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal oder irgendeine, nicht definierte Alternative führten zur Forderung eines zweiten Referendums. Rückblickend, sagte Hobhouse, "wäre die einzige Frage, die der Bevölkerung dann hätte gestellt werden können, eine Zustimmung zu oder Ablehnung von Mays Deal gewesen. Bei einer Ablehnung wäre wiederum ein neuer Vorschlag notwendig geworden, der klar mit 'Ja' oder 'Nein' zu beantworten ist. Demokratie braucht Zeit."

Großbritannien Brexit Symbolbild
Hobhouse bezeichnet den Brexit als "historischen Fehler".Bild: Getty Images/AFP/T. Akmen

Seit seinem Amtsantritt im September 2019 habe Premierminister Boris Johnson die konservative Partei "von moderaten Abgeordneten gereinigt", so Hobhouse. "Trotz ihres Enthusiasmus" sei es den Oppositionsparteien im Unterhaus nicht gelungen, Johnsons Pläne zu beeinflussen.

"Die Unsicherheit hängt wie ein Damoklesschwert über der Gesellschaft"

Von der EU und Brexit-Verhandlungsführer Michel Barnier fühlt sich die Politikerin ebenfalls "verraten". "Fast zwei Jahre lang hieß es: Es gibt nur diesen einen Deal oder keinen Deal. Und plötzlich gab es doch noch einen anderen, der innerhalb einer Woche auf dem Tisch lag, nachdem Boris Johnson mit dem irischen Premierminister einen langen Spaziergang gemacht hatte." Hobhouse sagt, sie habe nie daran gezweifelt, dass in letzter Minute ein Deal zustande kommen würde und Johnsons "leere Drohungen", ohne ein Abkommen die EU zu verlassen, nicht ernst genommen.

Die Mehrheit der Briten kenne bekanntlich die Einzelheiten des finalen, sehr umfangreichen Brexit-Abkommens nicht, alle müssten sich schrittweise vortasten. "Die Unsicherheit hängt wie ein Damoklesschwert über der Gesellschaft", so Hobhouse. Vom 1. Januar 2021 an hätten viele Menschen in Großbritannien deutlich zu spüren bekommen, was der Brexit wirklich bedeutet. Betroffen seien nicht nur der viel diskutierte Fischfang, sondern beispielsweise auch Kreativschaffende, Speditionen und Regulierungsbehörden. Viele Unternehmen prüften aktuell, in welchem EU-Mitgliedsstaat sie Büros, Lagerhallen oder Produktionsstätten anmieten oder aufbauen können, um ihre Geschäfte aufrechtzuerhalten. Eine weitere ungeklärte Frage sei, ob Briten, die zusätzlich die Staatsbürgerschaft eines EU-Landes besitzen, diese langfristig behalten können.

UK, London: Protest Brexit
Anti-Brexit Protestierende in London im März 2019. Aktuell gibt es keine Proteste gegen den Brexit, die Pandemie würde seine Auswirkungen verzögern, so Hobhouse.Bild: Reuters/D. Martinez

"Schleichender Plattfuß"

Auf die Frage, warum die Bevölkerung nicht gegen die Regierung protestiere, sagte die Politikerin, ein Grund sei die Coronakrise. Die Pandemie verzögere, dass die Auswirkungen des Brexit sichtbar würden und Johnson schiebe die Schuld an Problemen einfach der EU zu. Der zweite Grund: "Die Briten zeichnen sich durch eine positive, flexible Mentalität aus. Und das ist ja auch genau, was ich an ihnen schätze," so Hobhouse. Sie bezeichnet die Situation als schleichenden Plattfuß ("slow puncture"): "Die Leute werden sich noch angeschmiert fühlen." Hobhouses Hoffnung auf einen politischen Wandel ist aufgrund des britischen Wahlrechts und Parteiensystems gering. Ihre Partei der Liberal Democrats, die 2019 11,5 Prozent der Wählerstimmen gewinnen konnte, hätte im Deutschen Bundestag 80 Sitze, im Unterhaus sind es elf. Diese entsprechen nur zwei Prozent aller Sitze im Unterhaus. Zudem seien Koalitionen der sehr unterschiedlichen Oppositionsparteien – darunter Labour, die britischen Grünen und die schottischen Nationalisten – kaum denkbar, es gäbe wenig Zusammenhalt und keine gemeinsame Strategie.

Hobhouse wagt einen Blick in die Glaskugel: Sie könne sich durchaus vorstellen, dass nach den Wahlen in Schottland im Mai 2021 der Ruf nach einem zweiten EU-Referendum lauter werde. Diesem müsste jedoch die Regierung in London zustimmen. In Nordirland halte sie mittelfristig eine engere Bindung an das EU-Mitglied Republik Irland als an Großbritannien für ein realistisches Szenario. Die Abgeordnete zeigt sich gelassen: Vielleicht müsse das Vereinigte Königreich künftig nicht zu den starken Mächten auf der Welt gehören, "vielleicht kann man auch in einem Land ohne politischen Einfluss gut leben."

Britische Medien in der Krise

Es sei "kein Wunder, wenn die BBC auf Schmusekurs mit der Regierung geht", da sie von deren Unterstützung finanziell abhängig sei, sagt Hobhouse auf die Frage, wie sich die britischen Medien in Krisenzeiten verhielten. Es komme auf die Persönlichkeiten an – einige Journalistinnen und Journalisten seien durchaus objektiv, faktenorientiert und kritisch. Liberale Medien hätten es allerdings schwer, neben den EU-feindlichen Boulevardblättern und Plattformen von Rupert Murdoch zu bestehen. Hobhouse: "Ich habe zwar die Hoffnung, dass die Mehrheit im Land progressiv ist, sie ist aber momentan zu schwach."

Boris Johnson und David Attenborough beim UN-Klimagipfel 2020
Wegsehen hilft nicht: Die Regierung Johnson nehme das Thema Klimakrise nicht ernst, so Wera Hobhouse. Hier der Premierminister mit Naturforscher David Attenborough beim UN-Klimagipfel 2020.Bild: Chris. J. Ratcliffe/PA Wire/dpa/picture alliance

Drängend: der Kampf gegen den Klimawandel

"Die Klimakrise wird an Dominanz gewinnen", so Hobhouse. "Und mir persönlich ist sie viel wichtiger als der Brexit." Die Regierung Johnson nehme das Thema nicht ernst, dabei sei eine "Zero Carbon"-Strategie unerlässlich. "Als Politikerin braucht man ja immer ein Schwerpunktthema. Nach dem Brexit fokussiere ich mich jetzt ganz auf den Klimawandel."

 

Wera Hobhouse ist seit 2017 Abgeordnete des britischen Unterhauses für die Partei der Liberal Democrats, die gegen den Brexit war. Sie ist Sprecherin der Liberalen für die Themen Justiz, Frauen und Gleichstellung und erreichte eine Gesetzespräzisierung gegen sexuelle Belästigung durch Upskirting. Geboren und aufgewachsen in Deutschland, lebt die ehemalige Radiojournalistin, Künstlerin und Lehrerin seit 1990 in England. Vor 15 Jahren tauschte sie die deutsche gegen die britische Staatsbürgerschaft ein.

Twitter: @Wera_Hobhouse