Flut in Afghanistan: Langfristige Hilfe dringend nötig
16. Mai 2024Bei den schweren Überschwemmungen im Norden Afghanistans sind vergangene Woche mindestens 315 Menschen ums Leben gekommen. Noch immer wird im Schlamm und unter den Trümmern nach Vermissten gesucht. Nach Angaben der Taliban-Regierung wurden mehr als 1600 Menschen verletzt. Tausende Häuser wurden beschädigt.
Auf die Wassermassen folgte die Hitze. "Die Temperaturen sind in einigen Gebieten auf über 30 Grad gestiegen. Viele Orte sind mit Schlamm bedeckt. Der trocknet, wird fest und ist nur schwer zu beseitigen. Einige Gebiete sind aufgrund zerstörter Straßen nur schwer erreichbar", berichtet Thomas ten Boer in einem Telefonat mit der DW aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. Thomas ten Boer ist der Landesdirektor der Welthungerhilfe in Afghanistan. "Wir versuchen, die Überlebenden mit Essen und Trinkwasser zu versorgen", sagt er und fügt hinzu, dass derzeit nicht mehr möglich sei.
Die Naturkatastrophen haben die Lebensgrundlage vieler Familien, die vor allem von der Landwirtschaft leben, völlig zerstört. Die Menschen benötigen dringend langfristige Hilfe. "Nach unseren ersten Schätzungen wurden bei den schweren Sturzfluten mehr als 10.000 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zerstört", sagt Latif Nazari, stellvertretender Wirtschaftsminister der Taliban-Regierung, im Gespräch mit der DW. "Humanitäre Hilfe darf nicht an politische Forderungen geknüpft werden", fordert er und fügt hinzu, dass die Regierung in Kabul die UN und internationale NGOs kontaktiert und alle internationalen Geber um finanzielle und technische Unterstützung gebeten habe.
Wegen Klimawandel immer mehr Naturkatastrophen
Die jüngste Naturkatastrophe hat die seit Jahren andauernde humanitäre Notlage in Afghanistan weiter verschärft. Schwere Erdbeben und Überschwemmungen suchten das Land bereits zu Beginn des Jahres heim. Afghanistan ist auf extreme Wetterereignisse wie Dürren oder plötzlich einsetzenden Starkregen nicht vorbereitet. Die aber haben in den letzten Jahren zugenommen. Das Land ist von den Folgen des Klimawandels besonders betroffen, zugleich aber auch besonders schwach aufgestellt, um diese Folgen abzumildern. Dabei sind laut Afghanistan-Experten bis zu 80 Prozent der Bevölkerung auf die Landwirtschaft angewiesen.
Hinzu kommen andere Notstände, wie zum Beispiel die erzwungene Rückkehr von mehr als einer halben Million Afghanen aus Pakistan und regelmäßige Ausweisungen von größeren Gruppen Geflüchteter aus dem Iran, sowie der Wegfall vieler Einkommensmöglichkeiten nach dem Rückzug internationaler Organisationen seit der Machtübernahme der Taliban.
Nach Angaben der Vereinten Nationen leben 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung in Armut. Etwa 23,7 Millionen der 40 Millionen Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben; sechs Millionen Menschen stehen am Rande einer Hungersnot. Allein für die Unterstützung der Grundbedürfnisse, insbesondere der besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen wie etwa Kinder, werden in diesem Jahr Mittel in Höhe von 3,06 Milliarden US-Dollar benötigt.
Investieren in Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft
"Bis April waren nur knapp acht Prozent der für 2024 geschätzten Bedarfe für humanitäre Not- und Katastrophenhilfe in Afghanistan gedeckt", schreibt Katja Mielke, Afghanistan-Expertin vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) auf Anfrage der DW. Den Geberländern unter Federführung der Vereinten Nationen ist bewusst, dass in die Resilienz und die Widerstandfähigkeit der afghanischen Gesellschaft investiert werden muss. Es gibt Maßnahmen zur Ernährungssicherung, Wasserversorgung und Gesundheitsversorgung, die vor Ort über internationale und lokale Organisationen umgesetzt werden könnten.
"Aufgrund der Unterfinanzierung können aber nur wenige der Bedürftigen erreicht werden", betont Mielke weiter und fügt hinzu: "Auf strategischer Ebene ist es notwendig, die Sanktionen zeitnah aufzuheben und die eingefrorenen Staatsdevisen freizuschalten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dadurch könnten Anreize gesetzt werden, damit afghanische Unternehmer langfristig strukturbildend wirtschaften und investieren können."
Auf operativer Ebene könnte das Prinzip der staatsfernen, aber bevölkerungsnahen Unterstützung, das von vielen Geberländern, einschließlich Deutschland, angestrebt wird, am besten durch direkte Zusammenarbeit mit den Gemeinden umgesetzt werden. "Vertreter und Vertreterinnen der lokalen Gemeinden kennen ihre eigenen Bedürfnisse am besten und können idealerweise sicherstellen, dass die Verteilung bedarfsgerecht erfolgt und auch Frauen nicht ausgeschlossen werden", so die BICC-Expertin.