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Migranten: Flüchtlingshilfe kritisiert Stigmatisierung

4. Februar 2025

Nach dem tödlichen Messerangriff von Aschaffenburg diskutiert Deutschland über die Frage, warum Geflüchtete mit psychischen Problemen zu mutmaßlichen Tätern werden. Dabei werden ihre Erkrankungen nur selten behandelt.

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Provisorische Wände in einer Flüchtlingsunterkunft, auf denen Wäsche aufgehängt ist, einige Menschen im Mittelgang
Notunterkunft für Geflüchtete in ehemaligen Berliner Flughafen TempelhofBild: Jochen Eckel/IMAGO

Psychologinnen? Ingesamt vier. Sozialarbeiter? Einen einzigen. Psychotherapeutin? Gerade weggekürzt. Gabriele Al-Barghouthi weiß nur zu gut, was es heißt, den Mangel zu verwalten. Sie ist die Leiterin des Psychosozialen Zentrums Mondial Bonn, der Anlaufstelle in der alten Hauptstadt für Geflüchtete mit psychologischen und sozialen Problemen. Wenn man nach der zentralen Aufgabe ihres kleinen Teams fragt, fällt deshalb häufig der Satz: die Menschen nach ihrer Flucht und den häufigen Gewalterfahrungen erst einmal zu stabilisieren.

Doch das ist alles andere als einfach. Denn viele litten, sagt Al-Barghouthi der DW, vor allem unter den Umständen in Deutschland. "Dieses ewige Warten auf das Asylverfahren, diese Unsicherheit, die Unterbringung in riesigen Unterkünften ohne jegliche Privatsphäre. Viele bekommen auch die aktuelle politische Situation mit, erfahren Rassismus im Alltag und Ausgrenzung. Alles Sachen, die auch gesunden Menschen zusetzen würden."

Drei Frauen und Mann stehen vor einem Aufsteller, auf dem steht: "Vielfalt. Viel wert."
Silvija Jakovljevic, Milena Peitzmann, Gabriela Al-Barghouthi und Majid Ibrahim vom Psychosozialen Zentrum Mondial BonnBild: Oliver Pieper/DW

Jeder dritte Flüchtling psychisch krank

Das Psychosoziale Zentrum in Bonn ist eine der insgesamt 51 Einrichtungen in Deutschland, die sich um die therapeutische Versorgung von Geflüchteten hierzulande kümmern. Wenn man sich die Statistiken anschaut, bekommt man eine Ahnung, warum diese Hilfe oft nicht über die erste Stabilisierung der Patienten und Patientinnen hinausgeht: Laut Dachverband wurden 2022 knapp 26.000 Menschen unterstützt, was 3,1 Prozent des eigentlichen Versorgungsbedarfes entspräche. Dabei seien 30 Prozent der Geflüchteten psychisch krank, sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

Es sind Zahlen, die gerade in der hitzig geführten Debatte über den Umgang mit Geflüchteten ziemlich untergehen. Nach der tödlichen Messerattacke im bayerischen Aschaffenburg, bei der ein zweijähriges Kind und ein Mann getötet wurden, ist Migration das Wahlkampfthema Nummer eins. Mutmaßlicher Täter ist ein offenbar psychisch kranker Geflüchteter aus Afghanistan. Die Lage wird noch befeuert durch den Fünf-Punkte-Plan der Union zur Verschärfung der Asylpolitik, welcher mit den Stimmen der in Teilen rechtsextremen AfD im Bundestag angenommen wurde.

Migrationspolitik: Konsequenzen aus Attacke in Aschaffenburg

Die Psychologin Milena Peitzmann erfährt jeden Tag hautnah, was das mit den Geflüchteten macht: "Ich merke, dass meine Klienten und Klientinnen nach Aschaffenburg extreme Angst haben, sowohl was verschärfte Gesetze, härtere Abschieberegelungen oder auch eine neue Regierung angeht. Die Debatten bekommen natürlich alle mit, und das belastet die Menschen zusätzlich. Da ist zum einen diese Unklarheit und dann das Gefühl, quasi kollektiv für etwas bestraft zu werden, was eine Person gemacht hat."

Psychische Erkrankungen werden bei Ankunft nicht abgefragt

Peitzmann und Al-Barghouthi zählen auf, was es statt Härte in der Migrationspolitik eigentlich bräuchte: eine systematische Prüfung des Unterstützungsbedarfs in den Erstaufnahmeeinrichtungen und Sammelunterkünften, wo die Menschen zuerst ankommen. In dem Formular, in dem die Geflüchteten auch nach möglichen Krankheiten gefragt werden, fehle zum Beispiel eine entscheidende: die nach psychischen Erkrankungen. Und dann eine Politik, die nicht ständig mit Kürzungen droht. Und schließlich eine bessere Anschlussversorgung durch niedergelassenen Therapeuten. So jedenfalls sehen es die Fachleute.

"Wir haben vor zwei Jahren für ein Projekt alle 300 Psychotherapeuten in Bonn und im Umkreis angeschrieben, um auch ein wenig Werbung für unsere Klienten zu machen. Geantwortet haben uns gerade einmal drei. Die Idealisten wahrscheinlich", sagt Gabriele Al-Barghouthi mit einem bitteren Lächeln. Geflüchtete zu behandeln, sei vielen zu anstrengend: "Zunächst muss ein Übersetzer gefunden werden, dann ein Vertrag aufgesetzt werden und schließlich werden die Kosten dafür oft auch nicht übernommen."

Suizid beherrschendes Thema, nicht Gewalt gegen andere Menschen

Die Versorgung in Notfällen sei ein weiteres Thema, bei dem dringender Handlungsbedarf bestehe. Der klassische Fall: Patienten und Patientinnen landeten in der Klinik, würden aber nach nur einer Nacht entlassen und bekämen dann ohne große Erklärung eine Schachtel Tabletten in die Hand gedrückt. Und schluckten dann auch mal zu viele der Pillen.

Probleme in Deutschlands größter Flüchtlingsunterkunft

Grundsätzlich sei Suizid das beherrschende Thema in der Behandlung, mehr als die Hälfte der Patientinnen und Patienten habe Suizidgedanken, erzählen die Bonner Psychologinnen. Und nicht etwa, wie man angesichts der hitzigen Debatte in Deutschland vermuten könnte, Geflüchtete, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen.

Sozialarbeiter Majid Ibrahim sagt der DW: "Ich bin seit 2020 im Psychosozialen Zentrum, und in den ganzen Jahren hatten wir genau einen Fall, wo eine Person massiv mit Gewalt gedroht hat. Einen einzigen - und wir haben direkt die Polizei gerufen. In der Regel geht es darum, dass sich die Personen selbst Gewalt antun wollen."

Flüchtlingshilfe kritisiert Debatte und Generalverdacht

Jenny Baron arbeitet als Psychologin beim BAfF, der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Die Einrichtung hat kurz nach der Attacke von Aschaffenburg viele Anfragen bekommen, wie es zu dieser Tat kommen konnte und ob von psychisch Kranken eine besondere Gefahr ausgehe.

Die Debatte habe sie sehr erschrocken, schüre Ängste und führe zu einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung, sagt Baron der DW: "Wir als Dachverband merken, dass der Wind sehr viel rauer geworden ist. Es gibt weniger Anerkennung für Menschen, die sich mit sehr viel Engagement unter schlechten Bedingungen für Geflüchtete einsetzen und eine sehr hohe Versorgungsqualität sicherstellen. Wir merken es daran, dass die finanziellen Mittel knapper werden, weil die Politik nicht mehr die Notwendigkeit sieht."

Jenny Baron Diplom-Psychologin BAtF
"Es gibt Klienten, die schon relativ stabil waren, die jetzt jeden Tag Angst haben, abgeschoben zu werden" - Jenny BaronBild: BAtF

Auch Baron kritisiert die große Versorgungslücke. Momentan müssten die Psychosozialen Zentren viele Menschen aus Kapazitätsgründen ablehnen. Auf einen Behandlungsplatz müssten die Betroffenen auch schon einmal länger als ein Jahr warten. Oftmals blieben viele psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten aber unerkannt, die Menschen zögen sich zurück, hielten sich manchmal tage- oder wochenlang nur auf ihren Zimmern auf.

Die Psychologin appelliert, psychisch kranke Menschen nicht unter Generalverdacht zu stellen: "Sie sind in Deutschland eine sehr große Population. Wir wissen, dass ein Drittel der Bevölkerung im Laufe seines Lebens eine Erkrankung entwickelt. Der absolute Großteil dieser Menschen, egal woher sie kommen, wird aber nicht gewalttätig."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur