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Flucht nach vorne

15. März 2002

- Vierzig Prozent der jungen und gut ausgebildeten Polen möchten das Land verlassen

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Posen, 10.3.2002, WPROST, poln.

"250 000 Polen sollen in den vergangenen zwei Jahren Polen verlassen haben? Wir haben nichts davon gehört", sagen die erstaunten Soziologen und fügen hinzu: "Das ist die größte Emigrationswelle seit der sogenannten Solidarnosc-Emigration".

Warum reisen aber unsere Landsleute aus, wenn es in Polen bereits möglich ist, schneller und leichter Karriere als im Westen zu machen? Was machen sie in den Staaten der Europäischen Union, wo es immer noch nicht leicht ist, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen? Warum verlassen ausgerechnet sie das Land, wenn in derselben Zeit fast 200 000 Menschen aus dem Westen zurückgekehrt sind, die das Land in den achtziger Jahren verlassen hatten, weil sie zu dem Schluß kamen, dass sie jetzt in der Dritten Republik Polen doch größere Chancen haben?

Wir haben die Angaben des Hauptamtes für Statistik, der polnischen Konsularvertretungen im Ausland sowie die Informationen aus den Innenministerien der EU-Staaten, USA, Kanada, Australien und der Republik Südafrika analysiert. Wir haben außerdem in Statistiken der in Polen tätigen Stiftungen nachgesehen und bei den Headhunter-Firmen nachgefragt.

Aus diesen Angaben geht hervor, dass seit 1999 etwa 200 000 bis 250 000 Polen ausgereist sind und bisher nicht an eine Rückkehr denken. Unter den Ausreisenden überwogen Menschen zwischen dem 20. und dem 28. Lebensjahr, die entweder studierten oder ihren Abschluß gemacht haben. (...)

Aus dem Bericht der Firma Pricewatherhouse Coopers geht hervor, dass 40 Prozent der Polen, d.h. sechs Millionen Menschen (!) im Ausland leben und arbeiten möchten. Aus den Untersuchungen, die von der Zeitschrift WPROST in Auftrag gegeben und vom Institut Pentor durchgeführt wurden, geht hervor, dass sogar 68,8 Prozent der Befragten im Alter von 15 bis 29 Jahre gern im Westen entweder arbeiten oder lernen würden. Gleichzeitig meinen 77 Prozent der Befragten, dass es leichter wäre im Westen als in Polen eine Arbeitsstelle zu finden.

Man kann eine einfache Berechnung durchführen: 1997, als das Wirtschaftswachstum in Polen bei über sieben Prozent lag, sind etwa 30 000 Personen ausgereist. Zur Zeit liegt das Wirtschaftswachstum bei etwa einem Prozent. Das Ausmaß der Emigration ist also durchaus verständlich.

Solche Emigrationswellen gab es aber auch und zwar mehrmals in der Geschichte der EU, als das Wirtschaftswachstum dort über einige Jahre sank (....) Die jungen Leute schätzen einfach den wirklichen Zustand der Wirtschaft richtig ein und "entscheiden mit den Füßen", d.h. sie reisen mit der Überzeugung aus, dass, wenn solche Menschen wie sie nicht gebraucht werden, dies bedeutet, dass der Staat schlecht regiert wird. (...)

Wir haben fast 100 Personen gefragt, die sich für eine Ausreise aus Polen ausgesprochen haben, warum sie gerade jetzt das Land verlassen möchten. Fast 40 Prozent behaupten, dass sie zu diesem Schritt durch die Lage auf dem polnischen Arbeitsmarkt gezwungen seien. In den Ländern, die sie aufsuchen wollen, sei die Arbeitslosenrate vier bis fünf mal geringer als in Polen. Sie wollen keine Zeit verlieren, obwohl sie sich durchaus bewußt sind, dass keine guten Arbeitsangebote im Westen auf sie warten. Sie möchten Sprachen lernen und Kontakte knüpfen:

"Ich zähle nicht darauf, dass mir die Regierung von Leszek Miller helfen wird. Ich habe keine Illusionen mehr. Hier wird es vielleicht in fünf Jahren besser sein. In fünf Jahren werde ich aber schon dreissig Jahre alt und der Arbeitgeber wird sich anstatt für mich für einen ‚jungen Wolf‘, frisch nach dem Studium entscheiden, der hungrig nach Erfolg ist. Ich werde also nicht warten. Im möchte mich in dieser Zeit nicht degradieren müssen, oder in die Apathie verfallen. Im Ausland werde ich gezwungen sein, mich stärker zu bemühen und zu mobilisieren. Auch wenn ich nicht schnell erfolgreich werde, lohnt sich das sowieso", sagt Michal Kotarski, ein Absolvent der Biologie an der Universität Warschau.

Noch vor einigen Jahren waren ein Hochschulabschluss und Englischkenntnisse der Garant für einen jungen Menschen gewesen, eine Stelle zu finden. Oft sogar in einer ausländischen Firma, mit einem Gehalt, von dem seine Eltern nicht einmal träumen konnten. Jetzt garantiert sogar der Abschluß der Hauptschule für Handel (Szkola Glowna Handlowa) keinen Erfolg mehr. Noch vor drei Jahren bekamen die Studenten dieser Hochschule vier Arbeitsangebote nach dem Abschluß. Heute hat die überwiegende Mehrheit von ihnen kein Arbeitsangebot bekommen.

Aus den Informationen der sogenannten "Karriereagenturen" bei den Hochschulen geht hervor, dass die Mehrheit der Absolventen der Pädagogischen Fakultäten wie auch Banker sowie viele Ingenieure und Informatiker oder Wirtschaftswissenschaftler Probleme haben, eine Stelle zu finden. Noch vor vier Jahren kamen nur zwei Akademiker auf hundert Arbeitslose, heute sind das schon sieben. Das bedeutet, dass sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt um mehr als das Dreifache verringert haben. Es wird jedoch noch schlimmer kommen, wenn auf die Absolventen der geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt kommen werden.

"Worauf sollen wir warten", fragen die Hochschulabsolventen. "In den letzten drei Monaten habe ich mich bei über hundert Firmen beworben. Alle haben gesagt, dass sie angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt dazu gezwungen seien, die Beschäftigtenzahl zu reduzieren. Ich kann dies verstehen, aber ich muss auch leben. Aus diesem Grunde reise ich nach Holland aus. Ich werde als Reitlehrer auf der Insel Texel arbeiten, obwohl ich einen Abschluß in Informatik habe", sagt Tomasz Figurski, Absolvent der Universität in Lodz. (...)

Aus dem Bericht der Firma Pricewaterhouse Coopers und aus den Gesprächen, die wir mit den Ausreisewilligen geführt haben, geht hervor, dass sich zur Ausreise auch die Personen entscheiden (sie gehören jedoch zur Minderheit), die sich mit der freien Markwirtschaft und mit den Regeln der Konkurrenz schlecht auskennen. Sie sind sich in der Regel nicht bewußt, wie stark sich der polnische Markt vom westlichen unterscheidet und wie viel mehr man dort arbeiten und leisten muss. Sie zählen darauf, in das Sozialnetz aufgenommen zu werden, obwohl es für Polen eigentlich unzugänglich ist.

"Auf dem Arbeitsmarkt in Polen gibt es leider nicht einmal für die wertvollsten und best ausgebildeten Absolventen Bedarf", sagt Tomasz Magda von der Firma Amrop Hever Group, die nach Managern und Führungskräften in 53 Staaten sucht. "Aus diesem Grunde sprechen die polnischen Absolventen über Unmut und Ausreisepläne. Leider können die polnischen Absolventen - entgegen ihrer eigenen Meinung - nicht in Konkurrenz mit den Gleichaltrigen aus dem Westen treten. In der Regel müssen sie eine zusätzliche Ausbildung absolvieren und darüber hinaus können sie den Erfolg, von dem sie träumen, erst fünf Jahre später erreichen als ihre westlichen Kollegen", fügt Tomasz Magda hinzu. Ferner betont er, dass ein Emigrant, der die ersten Jahre seines Aufenthaltes für die Legalisierung seines Aufenthaltes opfert und in dieser Zeit schwarz arbeitet, in einer schlimmeren Lage ist, als ein Absolvent, der in Polen geblieben ist und nach einer langen Suche endlich eine Stelle fand. (...)

Die letzte Ausreisewelle ist aber auch eine Erscheinung, die typisch für die Epoche der Globalisierung ist (...)

Das Verlassen des eigenen Landes von jungen und gut ausgebildeten Bürgern ist aber auch eine Art des Mißtrauensvotums gegenüber der politischen Elite. Auch wenn viele von ihnen durch die Illusionen von einem sozialen Paradies im Westen getrieben werden, so senden sie gleichzeitig ein Signal an die ausländischen Investoren, dass Polen ein Land ist, in dem die Leute nicht leben wollen, die das Land eigentlich verändern sollten.

Die größten Emigrationswellen in Polen:

Nach 1956 haben die Volksrepublik Polen etwa 20 000 Personen, hauptsächlich aus politischen Gründen verlassen. Sie ließen sich vorwiegend in Frankreich, Großbritannien, der Bundesrepublik Deutschland, Norwegen, Schweden, Israel und in den USA nieder.

Nach den antisemitischen Ausschreitungen im März 1968 wurden meistens Personen jüdischer Abstammung zur Ausreise gezwungen. Damals sind etwa 15 000 Menschen ausgereist. Sie sind hauptsächlich nach Israel, Schweden, Dänemark, Kanada, in die USA, in die Bundesrepublik Deutschland und nach Frankreich ausgewandert.

In den siebziger Jahren sind vor allem die Personen ausgereist, die auf den Gebieten wohnten, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland gehörten. Ein Teil der Bewohner von Oberschlesien und der Region Opole (Oppeln) hat Polen im Rahmen der Familienzusammenführung verlassen. Die Regierung Gierek hat die Ausreisegenehmigungen als Gegenleistung für Kredite von der BRD erteilt, die dann zum Teil aufgehoben wurden. In den siebziger Jahren haben etwa 500 000 Menschen Polen verlassen.

Nachdem 1981 der Kriegszustand in Polen verhängt wurde, sind über eine Millionen Menschen im Rahmen der sogenannten "Solidarnosc-Emigration" aus Polen ausgereist. Sie haben sich in Westeuropa, den USA, Kanada, Australien und der Republik Südafrika niedergelassen. In den neunziger Jahren sind nach Polen etwa 500 000 Personen zurückgekehrt. (Sta)