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Fisch ist Geld auf Kamtschatka

Juri Rescheto16. September 2016

Am östlichsten Zipfel von Russland, auf Kamtschatka, gibt es viel Fisch. Und natürlich gibt es dort auch Regeln, wie man diesen Fisch fängt. Aber diese Regeln gelten wohl nicht für alle. Von Kamtschatka Juri Rescheto.

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Blick auf einen Vulkan auf der Kamschatka (Foto: DW/R.Richter)
Bild: DW/R. Richter

Kamtschatka: Fischen am Ende der Welt

Das Wort ist ein Zungenbrecher: Tschawytscha. So nennt man den Königslachs auf Kamtschatka. Diesen köstlichen Zungenbrecher lasse ich mir grade auf der Zunge zergehen. Ein Traum! Die aromatischen Tschawytscha-Buletten machen die Fischer vom Fluss Bolschaja Reka an diesem Abend selbst. Lagerfeuer, Wodka, Fisch.

Die Fischer sind Amateure, Touristen. Sie kommen aus der Nachbarregion, aus Kolyma, ebenfalls im russischen Nordosten, etwas nördlicher. Sie kommen seit Jahren an den Bolschaja Reka. Der Fluss fließt in das Ochotskische Meer, auf der westlichen Seite der Halbinsel. Soviel zur Geografie dieser kaum bekannten Region, früher übrigens militärisches Sperrgebiet, heute offen für alle.

Ein Paradies für Fischer

Die Fischer-Touristen sind nicht umsonst am Bolschaja Reka. In kaum einem anderen Fluss kommen wie hier alle sieben heimischen Lachsarten vor. Hierher schwimmt auch der Tschawytscha aus dem Ochotskischen Meer zurück, um an seinem Geburtsort zu laichen, sich zu vermehren. Eigentlich die wichtigste Phase im Lebenszyklus eines Fischs. Und eigentlich soll er genau dann geschont werden. Aber die Fischer von Kolyma zahlen Geld. Gutes Geld, um die Fischer-Lizenzen extra dafür zu erwerben. Sie dürfen also. Ganz offiziell.

Die Fischer-Touristen aus Kolyma am Fluß Bolschaja Reka (Foto: DW/R.Richter)
Die Fischer-Touristen aus Kolyma - Reiche Beute auf der KamschatkaBild: DW/R. Richter

"Idealerweise fangen wir natürlich die Mütterchen. Die weiblichen Fische", erzählt einer der Touristen. "Aber heute gibt's nur einen Jungen. Kein Kaviar also. Sonst würden wir zuerst Kaviar essen, und dann das Fleisch. Den Fisch selbst."

Kampf um das rote Gold

Am Morgen verlasse ich das Lagerfeuer und fahre an das Ochotskische Meer. Nach Oktjabrski. Ein Fischerort, in dem zu Sowjetzeiten bis zu 6000 Menschen lebten. Sie hatten Arbeit in den staatlichen Fischerfabriken, von denen die meisten längst zu sind. Seitdem ist Oktjabrski ein Tummelplatz für alle, die mit Fischfang Geld verdienen wollen. Vor allem mit Wildlachs und seinem Kaviar, dem roten Gold, wie man ihn hier nennt.

Dieses rote Gold wird tonnenweise ins ferne Moskau transportiert und dort fürs Mehrfache auf den Märkten verkauft. Viele verdienen sich dabei eine goldene Nase. Aber das Geschäft ist auch riskant, weil Kaviar verderbliche Ware ist. Mein Fahrer erzählt Horrorgeschichten, wie das rote Gold von Kamtschatka angeblich mit Chemikalien vollgepumpt Jahre später weiter verkauft wird. Eigentlich ungenießbar, ein Gift. "Die Leute kaufen es aber!", wundert sich der Fahrer.

Plattenbauten in Oktjabrski (Foto: DW/R.Richter)
Plattenbauten in Oktjabrski - Trostlose GeisterstadtBild: DW/R. Richter

Oktjabrski - Perfekte Kulisse für einen Hollywood-Streifen

Oktjabrski gleicht einer Geisterstadt. Plattenbauten, die seit 60 Jahren nicht renoviert wurden. Gehwege mit Schlaglöchern sind eine Gefahr für Autofahrer und Fußgänger gleichermaßen: wer nicht aufpasst, bricht sich das Bein. Dazu der heulende Wind vom Meer. Die Kulisse für einen apokalyptischen Hollywood-Streifen wäre perfekt!

Aber es gibt auch Leben in diesem Film. Am Ufer des Meers. Alle paar Hundert Meter stehen dort selbst gebaute Fischerhütten - anstelle der staatlichen Fischfabriken aus dem letzten Jahrhundert. Ich treffe Andrej, einen grauhaarigen Profi-Fischer mit einem typisch nordischen Gesicht. Seinen Nachnamen möchte er lieber nicht nennen. Andrej baut grade drei neue Mini-Zimmer an seine winzige Fischerhütte an. Für seine Mitarbeiter, sagt er.

Schlaglöcher in Oktjabrski (Foto: DW/R.Richter)
Gehwege mit Schlaglöchern sind in Oktjabrski die RegelBild: DW/R. Richter

Die Regeln werden zum eigenen Vorteil interpretiert

Andrejs Mitarbeiter - das sind ein Dutzend Korjaken und Itelmenen - gehören zu den Ureinwohnern Kamtschatkas. Andrej ist einer der wenigen, die mit mir sprechen wollen. Schließlich geht es um Fisch, und Fisch ist Geld auf Kamtschatka, viel Geld. Das jährliche Einkommen beträgt nach Informationen von WWF um die 176 Millionen US-Dollar.

Und wo viel Geld ist, dort werden die Regeln für den Gelderwerb zum eigenen Vorteil interpretiert. Denn das, was Andrej und seine Männer tun, ist eigentlich illegal: Netzfischen. Aber die Regeln seien so widersprüchlich und kompliziert, beschwert sich der Fischer, dass er lieber auf die eigene Lebenserfahrung setze: "Das Meer ist mein Lehrer. Wie einen Jäger lehrt es mich, wann und wo ich Tiere erlegen kann. Das ist Philosophie. Meine Lebensphilosophie."

Hälfte der Gewinne aus Wilderei

Die Urvölker sollen beschäftigt werden, deshalb haben sie als Fischer mehr Rechte als Russen. Die Korjaken und Itelmenen dürfen nämlich mit dem Netz fischen, weil das zu ihrer traditionellen Lebensweise gehört. Als Ausnahme. Aber von dieser Ausnahme gibt es wiederum andere Ausnahmen. Wertvolle Fische müssen zurück ins Meer. Darüber regt sich Andrej auf: "Itelmenen und Korjaken genießen hier einen besonderen Status. Die Beamten aber, die hier ihre Regeln aufstellen, wollen nicht einmal in die Geschichtsbücher schauen. Den Begriff 'wertvolle Fische' gibt es zwar im industriellen Fischfang, aber nicht im Leben der Urvölker. Sie kennen einfach nur Fisch. Und Fisch gibt ihnen Leben."

Ein Fischer am Ochotskischen Meer (Foto: DW/R.Richter)
Oktjabrski ist ein Tummelplatz für alle, die mit Fischfang Geld verdienen wollenBild: DW/R. Richter

Das ist also die Lebensphilosophie, auf die sich Andrej lieber verlässt, als auf die Regeln: "Der Fisch rettet hier die Bevölkerung. Ich hoffe, das wird sich so bald nicht ändern. Wie soll man denn sonst überleben?" Und so werden nach Angaben von WWF und anderen NGOs nur die Hälfte der Gewinne durch den Fischfang auf legale Weise erwirtschaftet. Die andere Hälfte ist Wilderei.

Die Jagd nach den Wilderern endet oft im Nichts

Betroffen ist davon nicht nur der Lachs. Die Königskrabbe wird oft auch illegal in den Gewässern um Kamtschatka gefangen und dann über Korea in die USA transportiert. Russische Beamte jagen die Wilderer, aber ihre Jagd endet oft im Nichts. Sie werden mit einem angemessenen Obolus für den Treibstoff oder die teure Fischerausrüstung entschädigt.

"Wir sind keine Wilderer", versichert mir Andrej. Und wirft sein Netz ins Meer.