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Thilo Sarrazins neues Buch auf dem Prüfstand

Ulrich von Schwerin
3. September 2018

Acht Jahre nach seinem Bestseller zur angeblichen Bedrohung durch muslimische Einwanderer nimmt sich Thilo Sarrazin den Islam selbst vor. Gastautor Ulrich von Schwerin hat das Buch unter die Lupe genommen.

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Buchvorstellung Thilo Sarrazin
Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines Buchs in BerlinBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Dass Thilo Sarrazin keine hohe Meinung von Arabern und Türken hat, ist kein Geheimnis seit seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" von 2010, der mit seinen umstrittenen Thesen zu Integration und Einwanderung einen Diskurs in Deutschland angestoßen hat. In dem Buch hatte der frühere Berliner Finanzsenator und Bundesbanker muslimischen Einwanderern pauschal Bildungsdefizite und Integrationsverweigerung vorgeworfen. Schon damals sah Sarrazin Muslime als Bedrohung der westlichen Gesellschaften, doch explizit mit der Religion des Islam befasste er sich nicht. Das holt er in seinem neuen Buch "Feindliche Übernahme" nun nach.

Seine Ausgangsfrage, welche Rolle der Islam für die Gewalttaten von Muslimen spielt, ist angesichts des Weltgeschehens erst einmal nachvollziehbar. Auch die Fragen, was der geringere Bildungsstand, die niedrigere Innovationsrate und die schwache Wirtschaftsentwicklung in Teilen der islamischen Welt mit der Religion zu tun haben, sind berechtigt und werden auch von vielen Muslimen diskutiert. Sein selbst gesetzter Anspruch, den Islam "sine ira et studio", also ganz nüchtern und unvoreingenommen zu studieren, erweist sich aber rasch als leere Behauptung.

Abstruse Anmaßung

Dem Islam nähert er sich über den Koran, den er nach eigener Aussage ganz gelesen haben will. So richtig dieser Ansatz zunächst erscheint, ist doch sein Anspruch, ohne Arabisch-Kenntnisse oder theologische Vorbildung durch die alleinige Lektüre des Koran die Kernaussagen des Islam bestimmen zu können, eine absurde Anmaßung. Er selbst gibt offen zu, dass er bei seiner Koranexegese "ausschließlich" seinem "unmittelbaren Textverständnis" folgt, als wäre der Koran ohne Berücksichtigung des Entstehungskontextes und der Rezeptionsgeschichte wirklich zu verstehen.

Ein handgemachter Koran mit Seiten aus Seide in der afghanischen Hauptstadt Kabul
Ein handgemachter Koran mit Seiten aus Seide in der afghanischen Hauptstadt KabulBild: Getty Images/AFP/W. Kohsar

Was nicht seiner Interpretation entspricht, ignoriert er. Auf die Mehrdeutigkeit des Textes oder seine poetische Dimension geht er nicht ein. Statt den Koran als Ganzes zu betrachten, reißt er einzelne Passagen aus ihrem Kontext und reiht sie nach Themen geordnet aneinander. Der "religiöse Gehalt" des Koran sei "sehr schlicht, die Vorgaben für den Gläubigen sind dafür umso klarer", findet Sarrazin. Sein Fazit: Das Heilige Buch der Muslime drehe sich obsessiv um Fragen der Sexualität und sei voller Hass auf Ungläubige und Aufrufe zur Gewalt.

"Versteht man ihn wörtlich, so lässt er wenig Raum für Missverständnisse", meint Sarrazin zum Koran. In seiner Lesart ist eine Trennung von Politik und Religion im Islam nicht möglich. "Je wörtlicher man den Koran nimmt, desto klarer scheint die Schlussfolgerung, dass weltliche Herrschaft ihre Legitimation immer nur in Gott finden kann", schreibt er. Wie viele andere Islamkritiker übernimmt Sarrazin damit eines der Kernargumente der Islamisten, deren Lesart er nicht nur als schlüssig, sondern als geradezu zwingend darstellt.

Ein Zerrbild aus Vorurteilen

Sarrazin übergeht dabei ebenso, dass die politische Ideologie des Islamismus ein Produkt der Moderne ist, sowie dass ihre Auslegung von der großen Mehrheit der Muslime abgelehnt wird. Den mystischen Islam moderater Prägung, der in den meisten muslimischen Ländern vorherrscht, erwähnt er mit keinem Wort. Es mag unlogisch erscheinen, dass er die radikale Lesart der Islamisten zum "wahren" Islam erklärt, doch ist dies in Sarrazins Konzept notwendig. Denn nur so kann er den Islam in seiner Gesamtheit als "Gewaltideologie im Gewand einer Religion" verdammen.

Seine Darstellung des Islam ist ein Zerrbild, das mehr mit seinen Vorurteilen, als mit dem gelebten Glauben der Mehrheit der Muslime zu tun hat. Nicht nur bei der Studie des Koran kann seine scheinbare Sachlichkeit mit all den Zitaten, Zahlen und Statistiken nicht verdecken, dass es ihm in Wahrheit offenbar nur darum geht, seine vorgefassten Ansichten zu bestätigen. Die Geschichte der islamischen Kultur beschreibt er als 800-jährigen Niedergang, offenbart damit aber vor allem einen geradezu böswilligen Drang, den Muslimen alles Positive abzusprechen.

Bemitleidenswerte Borniertheit

Wer einmal in Istanbul, Granada oder Kairo gewesen ist, kann nur staunen über die Aussage, "eine selbstständige islamische Baukultur hat sich nie entwickelt". Wer den prachtvollen Platz des Imam in Isfahan kennt, wird kaum zustimmen können, dass Muslime keinen "planvollen Städtebau mit Achsen und öffentlichen Plätzen" kennen. Es offenbart auch eine geradezu verblüffende Ignoranz und Überheblichkeit, wenn er behauptet, Muslime hätten "außerhalb von Märchenstoffen" keine eigene Literatur entwickelt - als habe es Dichter wie Hafis, Saadi oder Mevlana nie gegeben.

Der alte Königsplatz Meidan-e Imam mit der Imam Moschee in Isfahan
Der alte Königsplatz Meidan-e Imam mit der Imam-Moschee in IsfahanBild: picture-alliance/ dpa

Wenn Sarrazin allen Ernstes als Beleg für die kulturelle Rückständigkeit der islamischen Welt ihren Mangel an Sinfonieorchestern anführt, zeigt dies in aller Krassheit seine eurozentrische Perspektive. Dass es einen anderen Begriff von Kultur und Schönheit geben kann als in Europa, geht ihm offenbar nicht in den Kopf. Statt den Reichtum, die Komplexität und die Eleganz der Ornamente auf Teppichen, Kacheln und Fassaden zu würdigen, sieht er nur die Abwesenheit menschlicher Bilder und Skulpturen. Für so viel Borniertheit kann man Sarrazin fast bedauern.

Kein Interesse an Lösungen

Immer wieder zeigt sich, dass er nur berücksichtigt, was in sein vorgefasstes Weltbild passt. So offenkundig blendet Sarrazin aus, was sein Narrativ stört, dass auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der von ihm angeführten Statistiken aufkommen. Mehr noch aber als all die Zahlen zu Geburtenraten, Bildungsstand und Wirtschaftsleistung erscheint seine Grundthese fragwürdig, wonach alle sozialen und ökonomischen Probleme der Muslime auf ihre Religion zurückgehen. Oder wie es im Titel des Buches heißt, "der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht".

Kaum ein Muslim orientiert sich in erster Linie oder gar ausschließlich in seinem Handeln am Islam. Doch selbst wenn tatsächlich der Islam der Grund aller Probleme wäre, was wäre dann die Lösung? Dass alle Muslime ihre Kultur und ihren Glauben aufgeben? Wohl kaum. Eine Lösung für dieses Dilemma präsentiert Sarrazin nicht, doch ist er auch nicht an Lösungen interessiert. Sein ganzes Buch zeigt, dass es ihm nicht um die friedliche Gestaltung des Miteinanders geht, sondern darum, der strikten Trennung der Völker und dem Stopp der Einwanderung von Muslimen das Wort zu reden.

Prinzessin Diana 1992 am Taj Mahal in Indien
Kein Verständnis für Architektur? Taj Mahal in Indien, herausragendes Beispiel für indo-islamische ArchitekturBild: Getty Images/AFP/M. Sharma

Thilo Sarrazin: "Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht", Finanzbuch-Verlag, München, 2018, 496 S., 24,99 Euro.

Unser Gastautor Ulrich von Schwerin arbeitet als freier Korrespondent für verschiedene Medien in Istanbul. Neben der Türkei gilt vor allem Iran sein Interesse. Der studierte Politikwissenschaftler promovierte mit einer Arbeit über den iranischen Geistlichen und Dissidenten Ayatollah Montazeri.