1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Literatur

Faszination Wolken

Sabine Peschel
12. November 2016

Seit der Antike sind die Menschen den Geheimnissen der Wolken auf der Spur. Klaus Reichert hat nun für das Sachbuch "Wolkendienst" sein Wolkentagebuch geöffnet und die flüchtigen Himmelsgebilde in der Kunst erkundet.

https://p.dw.com/p/2SWgg
Wolkenhimmel bei Sonnenuntergang
Bild: picture-alliance/blickwinkel/P. Frischknecht

Berndnaut Smildes wolkige Kunst

Es hat einen seltsamen Titel, das neue Buch von Klaus Reichert. "Wolkendienst", die Wortverbindung klingt wie der Vers eines Prosagedichts, nicht wie der Titel eines wissenschaftlichen Sachbuchs. "Figuren des Flüchtigen" spürt Reichert in seinem Text nach, der nichts von einer kunstgeschichtlichen oder gar meteorologischen Abhandlung an sich hat.

Reicherts Band ist vielmehr eine formal vielgestaltige Diskussion der Faszination von Wolken, ein In-Bezug-Setzen ihrer Darstellungen in Kunst und Musik. Sein Buch ist eine Annäherung an etwas, das nie gleich ist, immer in Veränderung und doch immer bleibend. "Wolkendienst", den Begriff hat der Autor von John Ruskin entliehen, der damit in den 1870er Jahren William Turners Malerei beschrieb. "Service of Clouds" nannte der britische Schriftsteller, Maler und Kunsthistoriker Turners einzigartige Darstellungen der flüchtigen atmosphärischen Erscheinungen.

WilliamTurner Wolkenstudie
William Turners "Wolkenstudie" (nach 1830)Bild: picture-alliance/akg-images

Die unergründliche Schönheit des Flüchtigen

Der 1938 geborenen Klaus Reichert hat lange nicht in die Wolken geblickt. Sein Kindheitshimmel war feindselig. Es regnete Bomben und amerikanisches Lametta. Der Weihnachtsbaumschmuck wurde im Zweiten Weltkrieg eingesetzt, um den Radar zu stören. Erst als es am Himmel leer blieb, entdeckte der Junge die Blumen, Wiesen und Wolken. "Die dicken, silberweißen Haufen" werden zum Inbegriff des Friedens, "friedliche Heerscharen". Der Siebenjährige versucht zu beschreiben, was er gesehen hat. "Seitdem steht der Sommertag im Gedächtnis als erstes Beispiel für die Unbeschreibbarkeit der Dinge, die das Geheimnis ihrer Schönheit nicht preisgeben."

Reichert hat nie mehr aufgehört, das Geheimnis der Wolken zu erkunden. Jahrelang hat der Literaturwissenschaftler, Autor und Lektor ein Wolkentagebuch geführt, in dem sich Stimmungen und Beobachtungen mit gelehrten oder poetischen Assoziationen verbinden. "Frankfurt, 22. Oktober 2012: Später Nachmittag gegen halb sechs. Regelmäßige, parallele weiße Streifen am Himmel - eine sorgfältig, Zeile für Zeile ausgewischte Schiefertafel aus der Zwergschule für Giganten." Auszüge aus seinen Tagebüchern bilden einen wesentlichen Teil des kunstvoll strukturierten Bandes. Sie sind ein Echoraum, in dem menschliche Empfindungen mit philosophisch-ästhetischen Gedanken zusammen widerhallen können. Die Wolken- und Himmelsfotos von Reicherts Frau Monika verstärken den sinnlichen Eindruck.

Wolken am blauen Himmel
Altocumuli: Sommerwolken am blauen HimmelBild: picture-alliance/blickwinkel/P. Frischknecht

Wolken-Tagebücher, Mythen und Musik

Klaus Reichert war Professor für Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt und von 2002 bis 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine umfassende Gelehrsamkeit ermöglicht ihm, sein Thema so frei zu behandeln, dass es formal so leicht und wandelbar daherkommt, wie es seinem Gegenstand entspricht. Ein nicht so freier Geist hätte vielleicht Ordnung geschaffen, das Buch in große inhaltlich und formal unterschiedene Zusammenstellungen sortiert: Da sind die Tagebücher, die Essays, Zitate und Gedankensplitter, daneben Kapitel, in denen es um "Katastrophenwolken", um Mythen, Musik oder Maler geht. Doch Reicherts Buch kennt keine Blöcke und hat kein Inhaltsverzeichnis. Die verschiedenen Genres durchmischen sich und kreisen alle um eine Frage: Was fasziniert die Menschen - und besonders auch die Künstler, Musiker und Schriftsteller - an Wolken?

Prof. Dr. Klaus Reichert
Klaus Reichert war fast zehn Jahre lang Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und DichtungBild: DW/Jan Röhl

Wann sehen wir in die Wolken? Wenn wir jung sind, mit einem Halm zwischen den Zähnen im Gras liegen. In der Kirche, wenn pausbäckige Engel von Wolkenbäuschen auf uns herabschauen. Im Urlaub, beim Blick übers Meer oder auf die wolkenverhangenen Berggipfel. Haben die Wolken etwas Verheißungsvolles für uns? Warum führte Arnold Schönberg 1914 ein Kriegs- und Wolkentagebuch? Glaubte er, Schlachtenverläufe, Siege und Niederlagen aus Wolkenbildungen ablesen zu können?

Wolkendunst und Nebeldampf

Wenn Franz Liszts späte Klavierstücke "zwischen Tonalität und Atonalität nicht mehr fixierbar sind", entsteht ein dunkles, melancholisches Stück namens "Nuages gris" (Trübe Wolken). Richard Wagner schreibt über seine "Tongemälde" als "Momente, die im Fluß, in Zuständen der Veränderung sind". In Wagners "Tonmalerei" erkennt Reichert "lauter Kriterien für Wolkenbeschreibungen".

Als Wolke schwängert Zeus die Priesterin Hera. Die schöne Helena ist ein Phantom, eine Wolke, und verursacht einen Krieg. Der griechische Dichter Euripides spricht davon: Was ist eine Wolke? Sie ist das, was wir in ihr sehen. Reichert zitiert die griechischen Mythen und führt die Linien über Goethes Wolkenlehre und Alexander von Humboldts wissenschaftliches Verständnis des "Äthers" hin zu gegenwärtigen ästhetischen und kulturellen Begriffen. Von Zeus' geschleuderten Blitzen hin zu Lichtspielen, dem früheren Wort für Filme.

John Constable Wolkenstudie
John Constables "Wolkenstudie" (1822)Bild: picture-alliance/Heritage Images

Wolkenstudien in der Malerei und Fotografie

Tragend sind in dieser gelehrten Mischung die Kapitel über die Maler: Jacob van Ruisdael, der Mitte des 17. Jahrhunderts "große, rollende Wolken" ohne Sonnenstrahlen malte und "den alltäglichsten Dingen ihre Majestät verlieh". Reichert zitiert hier den Maler John Constable, der sein Leben Wolkenstudien gewidmet hat. Immer wieder zog dieser aus London hinaus auf die Heide, um Wolken naturgetreu abzubilden. "Skying" nannte das der Brite. William Turner dagegen, schreibt Reichert, "geht in die Erscheinungen hinein wie ein Ballonfahrer und malt, was sich in ihrem Inneren abspielt - die Tumulte und das thermische Geschiebe der atmosphärischen Schichten in wechselndem Licht."

Buchcover von Klaus Reichert "Wolkendienst" (S. Fischer Verlag)
Klaus Reicherts "Wolkendienst" erschien im September 2016 im S. Fischer Verlag

Von den zwölf wiederkehrenden Maler-Kapiteln sind mehrere Turner gewidmet. Aber auch die Dresdner Maler-Freunde Caspar David Friedrich und Carl Gustav Carus betrieben präzise Farb- und Lichtstudien. Ein Kapitel geht ihrem Naturverständnis nach, den Bildern, in denen Wolken wie Wellenberge erscheinen. Das letzte Maler-Kapitel handelt von Barbara Klemm und zwei Bildern der berühmten Fotografin. "Die Wolken fliegen, das Flugzeug fliegt, die Photographie aber ist angehaltene Zeit, der Inbegriff des Stillstands. Wie Zenons Pfeil, der die Bewegung negiert und den Barbara Klemm auch noch ins Bild geholt hat." Das Zitat ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie es dem Autor gelingt, Poesie und Ästhetik, Mythologie und Gegenwart zu vereinen.