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Familie: Deutschland sucht nach neuen Gemeinschaftsformen

Helen Whittle
17. Februar 2024

Verantwortungsgemeinschaft lautet das Wortungetüm, das einer alternden und sich verändernden Gesellschaft gerecht werden soll. Die Bundesregierung will damit neue Wege der gegenseitigen Fürsorge schaffen.

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Ältere Mann und Frau lachen, schauen gemeinsam auf ein Stück Papier
Menschen ohne enge Angehörige suchen nach neuen Wegen des Zusammenlebens im AlterBild: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Deutschland verändert sich: in der Art, wie Menschen lieben, leben und altern. Und eine Frage ist dabei aktueller denn je angesichts einer Gesellschaft, in der jeder Vierte angibt, einsam zu sein: Wie wollen Menschen füreinander sorgen, sei es in der Kinderbetreuung oder der Pflege der Älteren?

Über die Eckpunkte eines Lösungsvorschlags ist sich die Bundesregierung aus SPD, FDP und Grünen nun einig geworden. Bundesjustizminister Marco Buschmann nennt es die wahrscheinlich "größte familienrechtliche Reform der letzten Jahrzehnte".

Die so genannte "Verantwortungsgemeinschaft" soll einen neuen rechtlichen Rahmen schaffen, mit dem Gruppen von zwei bis sechs Personen rechtlich füreinander einstehen können, zum Beispiel im Falle eines medizinischen Notfalls.

"Außerdem hat die Verantwortungsgemeinschaft einen symbolischen Mehrwert. Wer sie eingeht, gibt einem sozialen Verhältnis eine Struktur und einen positiven Namen", sagt Buschmann.

Marco Buschmann, Mann mit Brille spricht, faltet dabei die Hände zusammen
Bundesjustizminister Marco Buschmann setzt sich für die Verantwortungsgemeinschaft einBild: ODD ANDERSEN/AFP

Soziologin: "Freiraum zum Experimentieren"

"Die Wahrheit ist, dass es in modernen Liebesbeziehungen keine Sicherheit gibt, und die Menschen lernen das oft auf die harte Tour", sagt Andrea Newerla, die sich als Soziologin vor allem mit Beziehungsmustern beschäftigt.

In einer alternden Gesellschaft, so Newerla, müsse die Frage, wie wir zusammenleben wollen und auf welche Art von Unterstützungsnetzwerken die Menschen angewiesen sind, völlig neu überdacht werden. Neben dem vorherrschenden Beziehungsmodell der romantischen Liebe zwischen zwei Menschen gebe es auch andere.

"Wenn wir wirklich etwas als Gruppe, als Kollektiv erreichen wollen, kenne ich kein bereits existierendes Konzept in der modernen Gesellschaft, das freiwillig und legal eingegangen werden kann. Wir brauchen Anreize, damit Menschen [jenseits der romantischen Norm] zusammenkommen", sagt sie der DW.

Newerla verweist auf das Beispiel der "Wahlfamilien", die von queeren Menschen eingegangen werden, häufig als Reaktion auf den Verstoß aus ihren biologischen Familien nach einem Coming-Out. Womöglich sei es besser, das alltägliche Leben nach Freundschaften statt nach dem Liebespartner zu organisieren.

"Wir müssen kreativ sein und brauchen auch Anreize vom Staat, um diese verschiedenen Formen auszuprobieren", so Newerla. "Die Verantwortungsgemeinschaft könnte tatsächlich ein Freiraum zum Experimentieren sein, denn es wäre tatsächlich möglich, dass Gruppen von Menschen mit neuen Formen der Gemeinschaft auf eine Weise experimentieren, die vom Staat anerkannt und rechtlich geschützt sind [wie die Ehe]."

"Ein Angebot ohne Nachfrage"

Laut der Bundesregierung soll die Verantwortungsgemeinschaft dazu beitragen, das Leben von Senioren und Alleinerziehenden zu erleichtern. Interessenverbände sind jedoch skeptisch, inwieweit sich das Leben der Menschen dadurch wirklich ändern wird.

Altersarmut in einem reichen Land

"Mit vielen Veränderungen für Senioren rechne ich eigentlich nicht", sagt Regina Görner, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) der DW. "Es gibt bereits Instrumente wie die Vorsorgevollmacht, die auch weniger bürokratisch und zeitaufwändig ist, als einen Notar einzuschalten."

Ältere Menschen leben mehr als doppelt so häufig allein wie der Durchschnitt der Bevölkerung. In der EU lebten im Jahr 2022 rund 32 Prozent der über 65-Jährigen allein, in Deutschland waren es 34 Prozent, so das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP). Es prognostiziert, dass bis zum Jahr 2030 fast sechs Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein werden.

Görner plädiert statt der Verantwortungsgemeinschaft für eine Reform des Pflegezeitgesetzes, da es derzeit nur unmittelbaren Familienangehörigen ermöglicht, eine bezahlte Freistellung von der Arbeit zu nehmen, um einen kranken Angehörigen zu pflegen. 

Heidi Thiemann, Gründerin von Alltagsheld:innen, einer Stiftung, die sich für die Rechte von Alleinerziehenden einsetzt, teilt ähnliche Bedenken im Gespräch mit der DW: "Im Grunde brauchen Alleinerziehende ganz andere Sachen, damit sich ihre Situation verbessern kann. Also insofern kann man fast von einem Angebot ohne Nachfrage sprechen."

Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft, das die Scheidungsrate für das Jahr 2021 auf 39,9 Prozent beziffert, werden in Deutschland heute rund 33 Prozent der Kinder von unverheirateten Eltern geboren.

Mehrere ältere Menschen sitzen beisammen, lachen und zeigen aufeinander
Gerade im Alter möchten viele Menschen der Einsamkeit entfliehenBild: Fredrik Von Erichsen/dpa/picture alliance

Thiemann befürchtet, dass Menschen, die in einer Liebesbeziehung leben, aber nicht verheiratet sein wollen, den neuen Rechtsmechanismus als Alternative zur Ehe nutzen könnten, allerdings mit weitaus weniger Rechtsschutz.

"Wenn die Verantwortungsgemeinschaft als abgesicherte Form ähnlich wie eine Ehe gehandelt wird unter den Paaren, dann haben wir die Situation, dass wir auf Dauer eine sehr hohe Quote von verarmten Alleinerziehenden bekommen werden, vor allem Mütter", erklärt Thiemann. "Es heißt, es gibt keine Steuererleichterungen mit dieser neuen Verantwortungsgemeinschaft, aber wie ist es denn mit Steuerverschlechterungen?"

Verantwortungsgemeinschaft statt "Ehe light"

Kritik an der Reform kommt auch von der oppositionellen konservativen CDU/CSU und der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD). Der rechtspolitische Sprecher der CDU, Günter Krings, befürchtet, der neue Rechtsmechanismus könne die Hintertür zur Polygamie öffnen.

"Niemand wird kontrollieren können, welcher Art die Verbindung zwischen den Menschen in einer solchen Verantwortungsgemeinschaft ist", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Ehe und Familie stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Die Bundesregierung betont dabei, die neue Reform richte sich an Menschen in nicht-romantischen Beziehungen, vor allem an ältere Menschen, und sei keine "Ehe light": Es gebe weder steuerliche Vergünstigungen noch erbrechtliche oder unterhaltsrechtliche Konsequenzen.

Nur ein Wunschtraum?

Die Soziologin Newerla spricht sich für neue Formen des Miteinanders aus, die vom Staat unterstützt werden, befürchtet aber, dass das aktuelle politische Klima in Europa in die entgegengesetzte Richtung geht.

"Ich weiß, dass die Rechtspopulisten diese neuen Lebenskonzepte nicht wollen. Das macht es denen schwer, die in Vielfalt leben wollen, nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern in allen anderen Formen der Vielfalt", so Newerla.

"Die Idee der Kleinfamilie ist sowohl für den Staat als auch für den Kapitalismus sehr nützlich, denn dort findet der überwiegende Teil der unbezahlten Betreuungsarbeit statt, die größtenteils von Frauen geleistet wird und die wirklich die Grundlage für eine funktionierende Gesellschaft und [Marktwirtschaft] ist."

Der ursprüngliche Entwurf der FDP für die Verantwortungsgemeinschaft aus dem Jahr 2020 enthielt Vorschläge für neue Wege, um finanzielle Fragen wie Erbschaft zu regeln. Die aktuellen Vorschläge seien weit weniger ambitioniert, so Newerla.

"Ich frage mich wirklich, warum die Angst vor neuen Formen des Miteinanders so groß ist", sagt sie. "Ich hoffe wirklich, dass die Menschen erkennen, dass ihnen nichts weggenommen wird, sondern dass ihnen etwas geschenkt wird."

Dieser Text erschien ursprünglich auf Englisch.