1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Droht ein chinesisches Lehman-Desaster?

Mischa Ehrhardt
21. September 2021

In China wankt das zweitgrößte Immobilienunternehmen des Landes. Sein Schuldenberg ist immens. Bei einer Pleite gäbe es daher Schockwellen. Würden die über die Landesgrenzen hinaus reichen?

https://p.dw.com/p/40YvV
China Shanghai Evergrande Gebäude
Bild: Xing Yun/Costfoto /Xing Yun/picture alliance

Evergrande ist in diesen Tagen ein Synonym für ein mögliches Scheitern - ein gigantisches Scheitern. Denn das Drama um den chinesischen Immobilienkonzern spitzt sich zu. Was ob der schieren Größe eigentlich schwer zu fassen ist, lässt sich in einigen Zahlen umreißen: Am Dienstag setzte sich der rasante Absturz der Evergrande-Aktien an der Börse in Hongkong fort. In weniger als einem Jahr haben die Aktien nunmehr 84 Prozent an Wert verloren. Ein Börsenwert - und damit Anlagevermögen - von umgerechnet rund 25 Milliarden Euro hat sich in Luft aufgelöst. Doch das ist gar nicht das größte Problem.

Der zweitgrößte Immobilienkonzern Chinas leidet unter einer Schuldenlast von sage und schreibe umgerechnet und je nach Quelle zwischen 100 und 300 Milliarden Euro.  Sollte dieser Koloss in die Pleite rutschen, würden die Verbindlichkeiten Riesenlöcher in die Bilanzen der Gläubiger reißen. "Die Schwierigkeit ist ja immer das systemische Risiko", sagt China-Experte Horst Löchel von der Frankfurt School of Finance an Management.

"Dadurch können Banken in Schwierigkeiten kommen und so entsteht dann im schlechtesten Fall ein negatives Schneeballsystem. Wenn das passieren würde, wären die Verwerfungen natürlich enorm." Einige Beobachter ziehen Vergleiche zur Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers - die letzten Endes Auslöser der Weltfinanzkrise 2008 war. Allerdings glauben die meisten, dass das Problem auf China beschränkt bleiben dürfte.

Absturz war absehbar

Inzwischen zeichnet sich ein immer deutlicheres Bild davon, wie es zu dieser Situation kommen konnte. Seinen Aufstieg in den vergangenen Jahren verdankt Evergrande einer Goldgräberstimmung an den Immobilienmärkten Chinas. Denn mit der stark wachsenden chinesischen Wirtschaft stieg auch der Bedarf an Wohnraum - für private Menschen ebenso wie für aufstrebende Unternehmen.

Infografik Evergrande finanzielle Probleme

Entsprechend sind die Preise am chinesischen Immobilienmarkt explodiert. Die Regierung in Peking versucht nun gegenzusteuern - etwa durch Mietbegrenzung in den Städten, um Wohnungen bezahlbar zu halten. Da der Konzern vor allem auf Expansion getrimmt war und mit sehr niedrigen Margen kalkuliert hat, ist dieses Kartenhaus in den vergangenen Monaten zunehmend instabil geworden und droht nun einzustürzen.

Neben diesem Missmanagement haben sich leitende Angestellte des Konzerns offenbar auch um die eigene Bereicherung gekümmert. Wie Evergrande bekannt gab, haben sechs Führungskräfte entgegen geltender Regeln vorzeitig Anlageprodukte verkauft. Normalerweise durften sie sich die firmeneigenen Anlagen erst nach einer festgelegten Haltezeit auszahlen lassen. Die Manager haben die Investments jedoch schon vorher zu Geld gemacht.

Der Verwaltungsratschef des Konzerns, Hui Ka Yuan, verbreitet zumindest Zuversicht. Er sei sicher, dass das Unternehmen "seine dunkelste Stunde" hinter sich lassen werde, schrieb Hui in einem Brief an die Mitarbeiter, über den lokale Medien am Dienstag berichteten. Zugleich versprach er, die Firma, die seit Wochen Anleger rund um den Globus in Atem hält, werde Immobilienprojekte wie versprochen beenden und Verantwortlichkeiten gegenüber Käufern, Investoren und Banken erfüllen. Ein Sprecher von Chinas zweitgrößtem Immobilienentwickler bestätigte nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters den Inhalt des Briefes.

Kleinanleger könnten entschädigt werden

Um einige Investoren mit den noch vorhandenen Werten zu entschädigen, hat der Konzern nun angekündigt, sie mit Immobilien auszahlen zu wollen. Damit habe man am Wochenende schon begonnen. Hierbei handelt es laut dem Finanzmagazin Caixin um Investitionen von zumeist Kleinanlegern in Vermögensverwaltungsprodukte des Konzerns. Interessierte Anleger könnten die nun in den lokalen Niederlassungen gegen Sachwerte eintauschen, das Volumen liegt den Angaben zufolge bei insgesamt rund 5,3 Milliarden Euro.

China I Evergrande Group
Wohnanlage von Evergrande in Huai'an in der Provinz JiangsuBild: Zhao Qirui/Costfoto/picture alliance

Ob die chinesische Regierung den Immobiliengiganten allerdings in die Pleite rutschen lässt, wird sich zeigen. Horst Löchel glaubt nicht, dass die Führung in Peking ein solches Scheitern zulassen wird. Die systemischen Risiken seien zu groß. Zum anderen spielt bei dem Thema auch eine Rolle, dass Wohnungen für viele Bürger in der Volksrepublik zum wichtigsten Teil der Altersvorsorge gehören. "Es handelt sich hier um ein Unternehmen im Staatskapitalismus", meint auch Stefan Risse, Kapitalmarktstratege beim Vermögensverwalter Acatis. "Bevor Peking zulässt, dass Schockwellen durch die eigenen Finanzmärkte und die Volkswirtschaft laufen, wird man die Gläubiger irgendwie befriedigen."

Während Ratingagenturen inzwischen vor einer Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens warnen, könnte Evergrande also too big to fail, zu groß zum Scheitern sein. Sicher ist das allerdings nicht. "Wer sich zunächst noch mit der Hoffnung auf staatliche Rettungsmaßnahmen der chinesischen Führung getröstet hatte, muss erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit zunehmend sinkt", gibt etwa Markus Schön, Geschäftsführer des Vermögensverwalters Schön & Co. zu bedenken. "Den privaten Immobilienkäufern wird man vermutlich helfen, um soziale Unruhen zu vermeiden. Reichere Anleger wie Investoren und Banken werden aber von dem immer wahrscheinlicher werdenden Zusammenbruch vermutlich ungebremst getroffen werden."

Schwappt die Krise über?

Die entscheidende Frage sei dann, ob und inwieweit solche Schockwellen über China hinaus spürbar wären. Dagegen allerdings spräche, räumt auch Schön ein, dass der chinesische Immobiliensektor relativ geschlossen sei und sich auch kaum außerhalb der Landesgrenzen refinanziere.

"Ich sehe gar keine Gefährdung unseres eigenen Finanzsystems", sagt auch Horst Löchel von der Frankfurt School. "Es geht mehr um die Stimmung: Soll man sich in China noch engagieren? Soll man dort noch investieren? Soll man noch chinesische Anleihen oder Aktien kaufen? Von hier aus gesehen sind es solche Fragestellungen, die für Unsicherheit im Markt sorgen."

In China dagegen sind die Sorgenfalten offenbar deutlich größer. Denn mit dem Kurssturz der Evergrande-Aktien ist auch die Börse in Hongkong auf Tauchstation gegangen: Am Montag ist der dortige Leitindex auf den niedrigsten Stand seit rund einem Jahr gefallen. Und das wiederum zieht auch die Börsen rund um den Globus in den Keller: Der deutsche Leitindex DAX, der just an diesem Montag seine Premiere mit 40 statt wie bisher 30 Werten feierte, verzeichnete im Tagesverlauf Verluste von mehr als zwei Prozent. So mancher Börsenexperte sieht mit dem Fall Evergrande den Auftakt zu einer möglichen Kurskorrektur am Aktienmarkt. 

Der Artikel erschien am 20.9. 2021 und wurde am 21.9. aktualisiert.