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Europa Hautnah

Nadine Baier23. Februar 2007

In Frankreich verlassen jedes Jahr rund 70000 Jugendliche ohne Abschluss die Schule, vor allem in den so genannten sozialen Brennpunkten. Viele von ihnen geraten auf die schiefe Bahn und leben am Rande der Gesellschaft.

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Bild: AP

Seit 1995 gibt es jedoch ein europäisches Projekt, das diese Jugendlichen auffangen soll - die "Schulen der zweiten Chance". Überall in Europa haben sich inzwischen Schulen diesem Netzwerk angeschlossen. In Frankreich sind es zwölf. Nadine Baier von Radio France Internationale hat eine besucht.

* * *

Der 22-jährige Jeremy steht vor dem Schulgebäude im Industriegebiet von Evry, 27 Kilometer südöstlich von Paris gelegen. 120 Jugendliche zwischen 16 und 26 bekommen hier jährlich eine zweite Chance. Jeremy ist einer von ihnen. Nachdenklich zieht er an seiner Zigarette.

O-Ton Jeremy:

"Ich glaube, jetzt bin ich aus dem Gröbsten raus. Das ist aber nicht einmal eine Woche her. Da hatte ich noch keine Wohnung, wusste nicht was ich aus meinem Leben machen sollte. Heute weiß ich was ich zu tun habe. Ich bin in einer Familie mit neun Kindern aufgewachsen, meine Mutter ist gestorben als ich sechs Jahre alt war. Mit achtzehn hat mich mein Vater rausgeschmissen. Die Schule war wirklich meine allerletzte Chance. Dank ihr komme ich wieder zurecht, dank ihr weiß ich, dass eine Zukunft möglich ist, dass ich später etwas erreichen kann, ohne sie wäre ich nichts."

Noch vor einer Woche wusste Jeremy nicht, was aus ihm werden sollte. Nun hat er eine sehr genaue Vorstellung von seiner Zukunft: Nachdem er sein Wissen mit Hilfe der Schule der zweiten Chance auf den neuesten Stand gebracht hat, möchte er sich die nächsten fünf Jahre einem Studium widmen, sich dann selbständig machen und in die Karibik auswandern. Doch vorerst besteht sein Leben aus der Schule der zweiten Chance. Während Jeremy eine Pause macht, herrscht im Gebäude reger Betrieb. Vor allem im Büro von Wally Elsaedy, der hier seit vier Jahren Schule unterrichtet und betreut.

Es ist immer etwas los bei Wally, die Bürotür ist sperrangelweit geöffnet. Gerade berät er eine Schülerin, die ihr Praktikum abbrechen möchte am Telefon. Währenddessen klopft pro forma die schüchterne Mikal an seine Tür, um ihm ihr selbst geschriebenes Gedicht vorzulesen.

Durch Wally hat sie das Schreiben für sich entdeckt.

O-Ton Wally Elsaedy:

"Wenn wir merken, dass es sich wirklich um jemanden handelt, der motiviert ist, der im Leben wieder zurechtkommen möchte, da werden wir ihm doch seine Chance geben – da kann er noch soviel angestellt haben. Wir haben in unseren Gruppen sogar jugendliche Straftäter, die schon im Gefängnis waren. Aber das heißt nicht, dass der Jugendliche, der eine Dummheit gemacht hat, da nicht wieder rauskommen möchte und es ihm vor allem bewusst wird, dass er etwas angestellt hat und er die verlorene Zeit jetzt nachholen möchte. Und wir sind da, um ihm zu helfen."

Und das mit Erfolg: 75 Prozent der Jugendlichen, die auf der Schule waren, schaffen den Sprung in die Berufswelt - wie Angelika Marchal.

O-Ton Angelika Marchal:

"Ich bin 17 Jahre alt und habe jetzt ein Praktikum im Finanzbereich gefunden. Ich möchte später mal eine richtige Businesslady werden. Wir machen hier die Hälfte der Zeit Praktika und die andere Hälfte drücken wir die Schulbank. Bis vor kurzem hatte ich noch Probleme mit der Justiz, naja, ich habe zwar niemanden getötet. Aber ich habe einen Golf angezündet. Es war ein dicker Golf, so einer für die Reichen halt, und das in meiner Stadt!Jetzt bin ich hier und versuche ein normales Leben zu führen...hier ist es normal. Ich mag die Schule, ist cool hier."

Ein schwieriger Fall war Angelika anfangs. Heute kommt sie zwar mal wieder zu spät, obwohl sie gleich nebenan wohnt. In diesem Fall hat sie allerdings eine gute Ausrede, denn sie hatte ein Vorstellungsgespräch. Für Direktor Dominique Dujardin ist Freiwilligkeit der wichtigste Grundsatz in seiner Schule der zweiten Chance, die Psychologie ist eine der Säulen des pädagogischen Systems.

O-Ton Dominique Dujardin:

"In einem Moment, in dem es nicht gut für den Jugendlichen läuft oder er sich langweilt, stellen wir ihn vor die Entscheidung und überlassen ihm, die Schule zu verlassen. Diese Vorgehensweise kennt er aber nicht, da in Frankreich viel Hierarchie herrscht – nach dem Motto: kleiner Chef, großer Chef, Oberchef. Der Schüler glaubt, er werde sowieso rausgeschmissen. Das wird aber nicht passieren, das ist fast noch nie vorgekommen. Auf eine Art ist die Schule der zweiten Chance gleichzeitig eine Schule der Freiheit, in der man nicht etwa lernt stillzusitzen und zu gehorchen, sondern frei zu sein. Das ist eigentlich das Einzige was wir ihm mitgeben können: die Freiheit, eine Wahl zu treffen. Dazu braucht man zum einen den Willen und zum anderen die Möglichkeit, sie treffen zu können. Schule der Freiheit soll nicht heißen, dass man hier machen kann, was man will, sondern dass man vor allem lernt autonom zu sein."