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"Es war immer eine gefährdete Demokratie"

Daniel Heinrich12. Oktober 2015

Der Anschlag vom Samstag trifft die Türkei ins Mark. Kurz vor den Parlamentswahlen stehen die demokratischen Pfeiler des Landes vor dem Kollaps.

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Türkei Beerdigung des getöteten Polizisten in Diyarbakir Foto: ILYAS AKENGIN
Bild: Getty Images/AFP/I. Akengin

Der Islamische Staat ist Schuld. Das sagt zumindest Ahmet Davutoglu und meint die Attentäter der Terroranschläge von Ankara. Ganz so sicher scheint sich der türkische Ministerpräsident allerdings dabei auch nicht zu sein. Vielleicht will er sich auch gar nicht festlegen. Jedenfalls nimmt er auch die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK und die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C mit in den Kreis der Verdächtigen auf.

Vor allem die Kurden wollen das nicht auf sich sitzen lassen. Die kurdische Opposition schiebt der Regierung ihrerseits die Schuld zu. Tausende demonstrierten am Sonntag gegen Staatspräsident Tayyip Erdogan. Und der Parteiführer der pro-kurdischen HDP, Selahatttin Dermirtas, stellt laut die Frage, wie sich so ein Anschlag am helllichten Tag inmitten der Hauptstadt ereignen könne. In einer Stadt "in der die Regierung sonst über jeden Flügelschlag" Bescheid wüsste.

Tiefe Spaltung der Gesellschaft

Es geht ein Riss durch die Türkei. Im Interview mit der Deutschen Welle erläutert der Türkei-Experte Christoph Neumann die tiefe Spaltung des Landes. "Auf der einen Seite haben wir die Machtzentrale um den ehemaligen Ministerpräsidenten und jetzigen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan." Ihm gegenüber stünden die "Verlierer des alten Establishments, genauer das Militär und die Kemalisten". Hinzu komme, so der Professor für Turkologie, die Spaltung zwischen türkischem und kurdischem Nationalismus.

Gerade der Kurdenkonflikt wird seit den Achtziger Jahren besonders blutig geführt. Über 40.000 Menschenleben haben seit seinem Ausbruch 1984 ihr Leben gelassen. Schien er sich in den letzten Jahren, auch wegen Bemühungen der AKP und Erdogans, entspannt zu haben, flammt der Konflikt seit dem Sommer wieder auf. Seit Juli wurden 140 türkische Sicherheitskräfte bei PKK-Anschlägen und mehr als 1700 kurdische Rebellen bei Armeebombardements getötet.

Am Samstag dann der Höhepunkt. Der verheerendste Terroranschlag in der Geschichte der Republik Türkei hat mindestens 97 Menschen das Leben gekostet. Besonders tragisch: Die Demonstranten, denen die Attentate galten, waren gekommen, um mehr demokratische Rechte einzufordern und die Gewalt im Land zu beenden. Durch die Attacke vom Samstag scheinen diese Ziele in weite Ferne gerückt.

Vermeintlicher Auslöser: Die Wahlen im Sommer

Die Hintergründe für die eskalierende Gewalt lassen sich auf das Ergebnis der Parlamentswahlen vom Juni zurückführen. Die AKP hatte zum ersten Mal seit der Machtübernahme 2002 Verluste hinnehmen müssen. Die Partei verfehlte die absolute Mehrheit und damit die Chance, durch eine Verfassungsänderung das Land in eine präsidiale Demokratie zu verwandeln. Dies ist der Traum des amtierenden Staatspräsidenten und immer noch starken Mannes der AKP, Tayyip Erdogan. Zum 100-Jährigen Bestehen der Republik Türkei im Jahr 2023 möchte er sich ein Denkmal gesetzt haben.

Die Vorwürfe der Opposition wiegen schwer: Als starker Mann in unruhigen Zeiten wolle er die Bürger hinter sich vereinen. Und dafür scheine Erdogan, aufgewachsen im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa und daran gewöhnt Probleme auf dem Weg nach oben aus dem Weg zu räumen, auch eine Eskalation der Gewalt in Kauf zu nehmen.

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Christoph Neumann zufolge sind die Unruhen zum jetzigen Zeitpunkt daher auch nicht überraschend: "Gerade wenn man etwas schnell ändern möchte, geht das am besten über Destabilisierung. Daher waren diese Unruhen vorauszusehen."

Wer wirklich hinter den Anschlägen steckt, das wird sich in den nächsten Wochen herausstellen. Fakt ist: Bisher ist die angebliche Taktik Erdogans nicht aufgegangen. Die Umfragen spiegeln immer noch das Ergebnis der letzten Wahlen wieder.

Deutschlands Rolle

Letzten Endes führt der jetzige Konflikt lediglich dazu, dass weitere große innenpolitische Probleme des Landes aufgeschoben, aber nicht angegangen werden. Mit mehr als zwei Millionen Syrern hat die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land weltweit. Alleine in Istanbul leben über 330.000 Syrer. Die Flüchtlinge aus dem Nachbarland sind zwar dadurch erst einmal gerettet. Allerdings fehlen Integrationskurse oder mittelfristige Pläne zur Eingliederung in die Gesellschaft. Viele von ihnen leben nicht in den vorbildlichen Camps in der türkisch-syrischen Grenzregion, sondern sind privat oder bei Verwandten untergebracht. Eine Mehrheit dieser Menschen sehen die Türkei als Durchgangsstation auf dem Weg nach Europa.

Um die Kooperation mit der Türkei zu verbessern, reist Angela Merkel am Wochenende in die Türkei. Aufgrund der instabilen Lage hält Christoph Neumann den Besuch zum jetzigen Zeitpunkt für unglücklich gewählt. Dennoch sieht er Chancen: "Ich würde auf die historischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern hinweisen". Der Kanzlerin rät er, vor allem auf parlamentarische Strukturen hinzuwirken. Denn kommt es zum Grundverständnis für demokratische Werte, habe das Land noch großen Nachholbedarf. "Die Türkei war immer eine gefährdete Demokratie. Und es war immer eine Demokratie, die mit einem sehr mangelhaften Rechtsstaat auskommen musste". Gerade Deutschland könne daran mitwirken, dass sich das ändert.

Protestspuren in Istanbul Foto: AFP OZAN KOSE
Der Terror hält die Türkei seit den Wahlen im Juni wieder fest im Griff.Bild: Getty Images/AFP/O. Kose