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Politik

Erdogan entdeckt die Menschenrechte

Daniel Derya Bellut | Hilal Köylü
7. März 2021

Der türkische Präsident tritt immer autokratischer auf. Doch nun will er mit dem "Aktionsplan Menschenrechte" die Verfassung demokratischer machen. Rechtsexperten sind misstrauisch.

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Türkei Präsident Erdogan
Bild: picture-alliance/dpa/AP/Presidential Press

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht gerne schon mal, mit groß angekündigten Prestigeprojekten die von der Wirtschaftskrise gebeutelte Bevölkerung bei Laune zu halten: Eine "neue Wirtschaftsära", versprach er, breche bald an, eine zweite Bosporus-Durchfahrt will er aus dem Boden stampfen und sogar ein türkischer Weltraumflug soll innerhalb der kommenden zwei Jahre realisiert werden.

In dieser Woche nun präsentierte der türkische Präsident den "Aktionsplan Menschenrechte" - ein umfassendes Maßnahmenpaket, das vieles in der Türkei verbessern soll. Meinungsfreiheit, Frauenrechte, Versammlungsfreiheit, effektivere Gerichtsverfahren, Demokratie, Minderheitenschutz - an wohlklingenden Schlagwörtern wurde bei der Präsentation am Dienstag nicht gespart.

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In nur zwei Jahren soll - pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum der türkischen Staatsgründung im Jahr 1922 - das Ziel erreicht sein: eine "zivile" Verfassung mit einer unabhängigen Justiz.

Dass Verfassung und Justizsystem in ihrer derzeitigen Form Mängel aufwiesen, gibt die Regierung in Ankara dabei unumwunden zu. Doch seien diese Mängel nicht selbstverschuldet. Die derzeitige Verfassung sei undemokratisch, weil sie der Bevölkerung nach dem Militärputsch 1980 aufgezwungen worden sei. Sie sei zudem veraltet, heißt es von Regierungsvertretern.

Erdogans Kampf gegen Andersdenkende

Viele Rechtsexperten und Anwälte äußern jedoch erhebliche Zweifel, ob gerade Erdogan und seine Regierung dazu geeignet sind, demokratischere Verfassungsreformen in die Wege zu leiten - dieselbe Regierung, die nach dem Putschversuch im Jahr 2016 zehntausende Beamte, Journalisten, Oppositionelle und Andersdenkende unter fadenscheinigen Begründungen per Dekret verhaften ließ. Regierungsgegner wie der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas, der Kunstmäzen Osman Kavala oder der Schriftsteller Ahmet Altan sitzen seit Jahren im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte forderte wiederholt ihre sofortige Freilassung.

Osman Kavala ist seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft
Osman Kavala ist seit mehr als drei Jahren in Untersuchungshaft Bild: Wiktor Dabkowski/dpa/picture alliance

Ein Plan, der die Menschenrechte stärken soll, sei für eine Regierung, die selbst systematisch gegen die Verfassung und gegen Menschenrechte verstoße, nur ein Feigenblatt, meint etwa der Verfassungsrechtler Ibrahim Kaboglu. "Jeder Regierungskritiker wird sofort bedroht oder als Terrorist diffamiert. Solch eine Regierung wird so lange unglaubwürdig bleiben, bis sie ihre Politik der Stigmatisierung grundlegend ändert", so der Jurist.

Der nun vorgestellte Aktionsplan, kritisiert auch Metin Günday, "klingt, als hätte unser Präsident dieses Land nicht in den vergangenen 19 Jahren regiert. Erdogan meint plötzlich, den Oppositionsführer spielen zu müssen," wundert sich der Verwaltungsrechtler der Atilim-Universität in Ankara, "dabei sollte er am besten wissen, dass es in diesem Land kaum noch Rechte und Freiheiten gibt."

Vorwurf der Doppelmoral

Während Erdogan am Dienstag seinen Aktionsplan präsentierte, ging sein Koalitionspartner Devlet Bahceli, Chef der ultranationalen MHP, fast zeitgleich gegen die Kurdenpartei HDP vor: Er forderte das oberste Gericht der Türkei auf, schnellstmöglich ein Verbot der prokurdischen Partei einzuleiten. Trotz dürftiger Beweislast wirft die Regierung der HDP vor, Verbindungen zur verbotenen Terrormiliz PKK zu unterhalten.

Für viele Kritiker war das Vorgehen Bahcelis ein Symbolbild für die Doppelmoral der türkischen Regierung. "Eine Regierung, die permanent die Justiz beeinflusst, wird sicherlich nicht dazu in der Lage sein, den Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu setzen", kritisiert Metin Günday. "Zunächst sollte Erdogan eingestehen, dass in der Türkei die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet ist". 

Ein weiterer Kritikpunkt, der von zahlreichen Juristen hervorgebracht wird, ist, dass der türkische Präsident im Jahr 2018 selbst die Verfassung zu seinen Gunsten reformiert habe. Damals führte Erdogan ein auf ihn zugeschnittenes, präsidiales Regierungssystem ein, das ihn selbst mit weitreichenden Befugnissen ausstattete.

Erdogan und MHP-Vorsitzender Devlet Bahceli
Erdogan und MHP-Vorsitzender Devlet Bahceli Bild: DHA

Dogan Erkan von der Anwaltskammer Ankara sieht darin sogar das größte Hindernis für die angestrebte Justizreform. "Das präsidentielle System lähmt die gesamte Justiz – de facto hat ein einziger Mann Autorität über Dutzende von Justizbehörden; zudem werden die Mitglieder des Verfassungsgerichts vom Präsidenten ernannt", so Erkan. 

"Dieses Ein-Mann-System widerspricht den Menschenrechten," sagt auch der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer, Mehmet Durakoglu. "In so einer Rechtsordnung werden Menschenrechtsversprechen auf Zuruf eines Einzelnen umgesetzt. Das kann so nicht funktionieren", so Durakoglu.

Aktionsplan nur Augenwischerei? 

Die türkische Regierung ist in der jüngsten Vergangenheit immer autoritärer aufgetreten: Zuletzt wurden friedliche Proteste gegen die Ernennung eines Hochschuldirektors an der Istanbuler Boagzici-Universität von der Polizei mit Gewalt unterbunden. Die protestierenden Studentinnen und Studenten wurden von Regierungsvertretern als Terroristen diffamiert, obwohl die jungen Türken nur von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machten – ein Recht, das auch in der derzeitigen Verfassung bereits verankert ist.

Dass nun der türkische Präsident von einer zivileren Verfassung und einer größeren Achtung der Menschenrechte spricht, halten viele daher für ein "abgekartetes Spiel". 

In der türkischen Öffentlichkeit wird darüber spekuliert, ob das Reformpaket womöglich Teil einer Abmachung mit der Europäischen Union sein könnte. Seit Ende 2020 sind aus Ankara wieder versöhnliche Töne Richtung Brüssel zu hören. "Wir wollen eine neue Seite in den Beziehungen mit der EU aufschlagen", hieß es zuletzt vom Präsidenten. Erdogan will eine Visa-Freiheit für türkische Bürger, die in die EU reisen wollen, aushandeln.