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England, Frankreich und die EU

Alexander Kudascheff, Brüssel22. Juni 2005

Die Fronten im Streit der EU-Länder verlaufen heute wie zu Zeiten der Schlacht bei Waterloo. Damals schon schlugen sich Franzosen und Engländer (mit Hilfe Preußens) die Köpfe ein. Heute heißt es: Chirac gegen Blair.

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Europa - genauer die EU- steckt in der Krise. In einer tiefen Krise, wie der noch amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker auf dem im Fiasko gescheiterten EU-Gipfel spätnachts festgestellt hat. Da ist zum einen die Verfassungskrise. Immer noch weiß die EU nicht wirklich, wie sie mit dem doppelten Nein der Franzosen und Niederländer umgehen soll. Man hat den Plan D erfunden: D - das steht für Debatte, Diskussion, Dialog, Demokratie - und - das ist wohl das wichtigste: für Denkpause. Die Denkpause - sie ist eine Atempause, um nachzudenken, wie es weitergehen soll und kann.

Alexander Kudascheff
Alexander Kudascheff

Ein Jahr Zeit hat man sich genommen - und unterbricht es gleich wieder. Denn die Zyprer werden die Verfassung ratifizieren - und die Luxemburger stellen sie am 10. Juli in einem Referendum zur Abstimmung. Und das obwohl man doch gerade gemeint hatte, man müsse den Neintrend stoppen, den Dominoeffekt kippen. Aber so ist die EU. Erst verabredet man eine Denkpause, dann unterbricht man sie sofort wieder - und hat auch noch den Beschluss auf seiner Seite. Denn dort hieß es lapidar: Denkpause na klar, aber jeder Staat dürfe machen, was er wolle und für richtig halte und im übrigen werde die Verfassung nicht neu verhandelt, sie sei gut so wie sie sei. Und Frankreich und die Niederlande erklärten: sie würden die Verfassung nicht noch einmal ihren Völker vorlegen. Also was dann? Dann ist die Verfassung gescheitert und man braucht weder eine Denk- noch eine Atempause. Denn ohne ein Ja aller 25 gibt es keine Verfassung - aber trotzdem tut man so als sei das möglich. Das ist die höchste, die virtuose Form des nebulösen europäischen Kompromisses.

Französische Beleidigungen

Und dann wollte die EU angesichts des Neins zur Verfassung Handlungsfähigkeit beweisen. So, wieder und noch einmal, Jean Claude Juncker. Der Gipfel sollte sich auf den Haushalt für die Zeit von 2007 bis 2013 einigen. Und damit signalisieren: die EU mag in der Krise stecken, aber sie handelt trotzdem. Noch einmal ein Fehlschluss. Denn in einer erbitterten Kontroverse scheiterte der Gipfel an seinem Vorhaben - und alle waren traurig und auch beschämt angeblich über die Engländer und ihr störrisches no. Dabei hat der französische Präsident Chirac - eigentlich durch sein harakiri-Vorhaben, ein Referendum in Frankreich abzuhalten, als wisse er nicht, wie anarchistisch die Franzosen sind, der Hauptverantwortliche des europäischen Schlamassels - beim Streit über die Gelder für die Landwirtschaft ganz brutal und beschämend verletzend von "dicken, voll gefressenen Ländern, die nicht bereit seien, etwas für die armen Länder zu tun" gesprochen. Derselbe Chirac, dessen Landwirtschaft am meisten von den EU-Geldern profitiert. Derselbe Chirac, der nicht bereit war, auch nur einen Euro abzugeben. Denn der völlig überhöhte Anteil der Landwirtschaft am EU-Haushalt (de facto an die 48 Prozent) geht ja nicht an die Bauern in den neuen Beitrittsländern. Nein - er geht zu rund 80 Prozent an die alten Mitglieder. Der Streit übers Geld: Er ist ein Konflikt zwischen den gewohnten Empfängerländern, die nichts abgeben. Und das gilt bestimmt nicht für die "dicken, voll gefressenen" Niederländern, die pro Kopf am meisten in den EU-Haushalt netto zahlen. Aber beim Suchen für einen Schuldigen hat Chirac schon immer gerne auf andere gezeigt.

Dank an Blair

Und der Hauptschuldige ist natürlich Tony Blair, der es gewagt hat festzustellen, der EU-Haushalt sei unmodern und nicht den Aufgaben des 21. Jahrhunderts gewachsen - weil er den Bauern gebe und Wissenschaft und Forschung beschneide. Ganz unabhängig vom Britenrabatt, der ebenfalls überholt ist - aber und das wird auch von Chirac gerne öffentlich vergessen - gerechtfertigt bleibt, solange die meisten Gelder in die Landwirtschaft fließen, denn davon profitiert England am allerwenigsten. Immerhin: Chirac hat im Streit unverfroren die Landwirtschaft zur Zukunftstechnologie des 21. Jahrhunderts erklärt. Ob er damit die Gänsestopfleber meint?

Die EU steckt in der Krise. In einer heilsamen Krise. Sie muss sich über sich selbst klar werden. In diesem Sinn war das Fiasko von Brüssel ein heilsamer Schock. Es hat aber auch deutlich gemacht: die Zeit der windelweichen, faulen europäischen Kompromisse ist abgelaufen. Blair sei Dank.