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Glaube

Einsamkeit - Bedrohung oder Chance?

9. Januar 2021

In der gesellschaftlichen Wahrnehmung schwankt der Begriff zwischen Faszination und Bedrohung. Einsamkeit wird in der Regel negativ bewertet. Aber sie kann gleichzeitig eine unglaubliche Chance sein.

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Bild: Fotolia/Kenike Mana'o

Von Leo Tolstoj (1828-1910), einem der großen russischen Dichter, wird überliefert, er habe einmal von einem Traum erzählt. Darin hätte er auf einer tief verschneiten Landstraße zwei Stiefel wandern sehen. Nur diese zwei Stiefel. Der eindrückliche Traum versinnbildlicht vielleicht Tolstojs persönliche Erfahrung von Einsamkeit als Isolation, als das vielfältig in seinem Leben und Schreiben erfahrene Nicht-verstanden-Werden. Das Bild vermittelt auch heute vielen Menschen eine deutlich negative Aussage. Gerade in der momentanen Coronapandemie wird Einsamkeit negativ gesehen und vor allem so empfunden. Einsame Helden faszinieren uns zwar, aber persönlich schrecken die meisten Menschen vor diesem Zustand zurück.

Einsamkeit ist ein Containerbegriff. Er beinhaltet die soziale Isolation genauso wie den erholsamen Urlaub allein auf einer Insel oder den Rückzug eines Künstlers. Im Laufe der Jahrhunderte erfuhr der Begriff vielfältige Deutungen und Konnotationen. Im Zeitalter der ununterbrochenen Präsenz von Internet und Social Media aber scheint Einsamkeit beschämend geworden zu sein, signalisiert im besten Fall Verschrobenheit oder sogar Menschenfeindlichkeit, ja, Lebensuntauglichkeit.

Eremiten sehen das anders. Die seit dem 4. Jahrhundert auch in Deutschland vorkommenden Gottsucherinnen und Gottsucher wählten und wählen bis heute bewusst eine Lebensform, die durch Zurückgezogenheit und Stille geprägt ist. Einsamkeit nicht als passiv zu erduldender Zustand, sondern als bewusst und freiwillig gewählte innere und äußere Konstante. Auch wenn sich im Lauf der vergangenen mehr als 1600 Jahre vieles an der Lebensform des Einsiedlers verändert hat: Die Erfahrungen, die mit dieser Einsamkeitsform verbunden sind, ähneln sich bis heute stark. In meinen jetzt 26 Jahren in der Einsiedelei startete das Reduzieren der Kontakte verbunden mit dem intensiven Gebetsleben einen inneren Prozess. Stille und Zurückgezogenheit werfen den Menschen, warfen auch mich auf mich selbst zurück.

Wenn all die vielfältigen Alltagstätigkeiten, all die kleinen und großen Ereignisse nicht mehr stattfinden, wenn die äußeren Reize nach und nach abgedämmt, leise werden und verschwinden, bleibt nur noch das eigene, kleine, leise oder laute Innenleben des Menschen selbst. Auch für mich war das zu Beginn eine manchmal erschreckend schmerzhafte Erfahrung. Für manche Menschen ist es fast wie eine Entzugserscheinung, wenn das Rauschen der pausenlos anbrandenden Ablenkungsmanöver der Welt um uns herum einmal aufhört. Flucht ist keine Alternative, alle Arten von Betäubung auch nicht. Sich in dieser Situation nicht zu verstecken, ihr nicht auszuweichen, sondern sich ihr bewusst auszusetzen ist letztlich die einzige Möglichkeit, sie als eine Chance zu begreifen. Für mich war es ein langer Prozess, der mit wachsender Freude und Zufriedenheit in eine große geistliche Weite führte. Die Erfahrungen von Stille und Einsamkeit können wie Leitplanken sein, die den Menschen tief und tiefer zu einem Geheimnis lenken, zu einer Erkenntnis, die alle Schmerzen lindern oder sogar aufheben kann. Sie können den Menschen öffnen bis zu seinem innersten Seelengrund. Einem Ort, an dem es nicht mehr geheim ist, was die Welt zusammenhält. In vielen Gesprächen in der Einsiedelei durfte ich Ratsuchenden helfen, diesen Weg zu beginnen. Denn es ist eine Erkenntnis, eine Zusage, die jedem Menschen beständig angeboten ist. Es ist wie eine Einladung Gottes, mit allem, was schmerzt und durch sein Fehlen das Leben schwer und mühsam macht, mit all den quälenden Fragen in dieser Stille und Einsamkeit zu dem zu kommen, der alles Leid der Welt in sein Herz aufgenommen hat. Und dann als Antwort das unbeschreibliche Wort von der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen wahrzunehmen. Zu begreifen, zu spüren, es innezuwerden als kleiner schwacher Mensch unendlich und über Zeit und Raum bedingungslos geliebt zu sein. 

Maria Anna Leenen, Diözesaneremitin im Bistum Osnabrück