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Aussteigen auf Probe

14. Februar 2012

Alternativ leben, entschleunigen, die Umwelt schonen: Den Traum vom Ausstieg aus dem Alltag leben Menschen im Ökodorf Sieben Linden. Aufgenommen wird, wer sich an ökologische und demokratische Prinzipien hält.

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Gästehütte für 2 Personen im Vordergrund und Haupthaus im Hintergrund im Ökodorf "Sieben Linden. Aufnahme: 03.02.2012/ Karin Jäger. Rechtefrei.
Ökodorf Sieben LindenBild: DW

Wer in der Dunkelheit nach Sieben Linden anreist, sollte eine Stirnlampe dabei haben und auf schweres Gepäck verzichten. An diesem Flecken in der Altmark, im westlichen Sachsen-Anhalt, gibt es keine Außenbeleuchtung, und Autos müssen vor dem Dorf abgestellt werden. Totenstille begleitet den Besucher beim Fußmarsch über den holprigen Weg durch die abendliche Dunkelheit zu dem ersten beleuchteten Haus in 300 Metern Entfernung.

Gleich im Eingang des Gemeinschaftsgebäudes empfängt Michael Würfel den Neuankömmling. Der Filmemacher und Buchautor kümmert sich im Dorf auf Honorarbasis um die Öffentlichkeitsarbeit und ehrenamtlich um die Reinigung der Toiletten. In dieser Eigenschaft zeigt er dem Gast als erstes die Komposttoiletten, wahre stille Örtchen, denn eine Wasserspülung gibt es nicht. In einem großen Behälter im Keller werden die Fäkalien zersetzt und in humusreiche Erde umgewandelt, die die Dorfbewohner als Dünger unter den selbstgepflanzten Bäumen verteilen. Der zum Dorf gehörige Fichtenbestand wird nach und nach ausgedünnt, das Holz verheizt. Für jede Fichte wird ein Setzling gepflanzt. Ein Mischwald soll entstehen, beschreibt Michael eines der Ziele. In den Gemeinschaftsräumen ist es behaglich warm. Es gibt Duschen, aus denen sich herrlich warmes Wasser ergießt. Und elektrisches Licht, das weitgehend aus selbstgewonnenem Solarstrom gespeist wird. Gäste schlafen wahlweise in Zimmern, freistehenden Hütten oder im eigenen Zelt.

Von wegen Ordnung! - Im Eingangsbereich des Gemeinschaftshauses "Sieben Linden" stehen ungeordnet Schuhe. (Foto:DW/Karin Jäger)
Geordnetes Chaos in schuhfreier ZoneBild: DW

Der lange Weg zum Ökodorf

Das Interesse am Leben in Sieben Linden ist groß. Einzelne Gäste und ganze Gruppen wollen sich verändern, weil sie die zunehmende Individualisierung, die Konkurrenz- und Neidgesellschaft, die Energieverschwendung nicht mehr mittragen wollen.  An diesem Wochenende werden 21 Seminar-Teilnehmer aus ganz Deutschland und der Schweiz zu den PIT erwartet, den Projekt-Informations-Tagen. Sie wollen mehr erfahren über die Ökologie und die Weltanschauung der Menschen, die ausgestiegen sind, um in dieser Abgeschiedenheit ihre Überzeugung zu leben. Sie wollen Teil der Lösung der Probleme der Welt sein, nicht Teil der Probleme.

Dieter Halbach ist einer der Pioniere und einer der wenigen, die seit 1990 ununterbrochen daran arbeiten, ihren Traum umzusetzen. "Für andere war die Idee wichtiger als die Umsetzung. Aber ich kann nicht davon ablassen, was ich als Vision in mir habe, bis zur Realität umzusetzen. Das ist schon zwanghaft", sagt Dieter mit stoischer Ruhe. Dieter, studierter Soziologe, ist einer von 130 Bewohnern, die an diesem Gemeinschaftsprojekt experimentieren. Zur Begrüßung greift er zur Gitarre und stimmt ein Lied zum Mitsingen an.

Dieter Halbach, der letzte Gründer des Ökodorfes "Sieben Linden", der nach 15 Jahren Bauzeit auch noch dort wohnt. (Foto:DW/Karin Jäger)
Ökodorf-Urgestein Dieter HalbachBild: DW

Danach erzählt er vom Scheitern des realexistierenden Sozialismus und der Sorge über den möglichen Verlust der Solidarität, die viele ostdeutsche Bürger nach dem Ende der DDR plagte. Andererseits suchten auch Westdeutsche nach Alternativen und Gründen, ein solches Dorf zu errichten. Die Bewohner wollten sich selbst versorgen, verantwortungsbewusst mit der Umwelt umgehen und sich gegenseitig wertschätzen.

Jede Veränderung gehört zum Experiment "Utopie leben"

Bis 1997, ganze sieben Jahre lang, dauerte es vom ersten Treffen einer Gruppe bis zum Grundstückskauf für ein ganzes Dorf. Dieter sagt, er halte nicht an Konzepten fest, sondern verändere sich mit dem Leben. Noch immer leistet er gewaltfreien Widerstand, engagiert sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung und gegen Gentechnik in der Landwirtschaft. Auch versucht er sich künstlerisch und publizistisch zu verwirklichen.

Das Leben an dieser Vision erfordert Geduld. Die Sieben Lindener versuchen, Handwerk ohne Maschinen auszuüben. Auf einer Anhöhe werden sechs Pferde gehalten, die die Felder bestellen. Sie sind die einzigen offiziellen Tiere in Sieben Linden. Die herumstreunenden Katzen werden geduldet, weil sie Mäuse fangen. Nutztierhaltung zu Zucht- und Schlachtzwecken sind tabu im Dorf. Tiere sollen nicht sterben in Sieben Linden.

Second-Hand-Ecke im Ökodorf "Sieben Linden". Auf einer Leine hängt Bekleidung. In Regalen liegen gebrauchtes Spielzeug, Elektrogeräte, Kleidung. (Foto:DW/Karin Jäger)
Mitnehmen erwünscht: Second Hand-Freiluft-AngebotBild: DW

Heile Welt ist woanders

Kompromisse gehören zum Alltag. "Wir sind ein Mikrokosmos, in dem sich alle Probleme der Welt draußen widerspiegeln", beschreibt Dieter Halbach das Klima der Gemeinschaft: "Es gibt Einkommensunterschiede, Beziehungen, die scheitern, dominante und schüchterne Menschen", erklärt der 58-Jährige. Als heilsam empfindet er diese Unterschiede, weil sie offen zutage treten dürfen. Die Herausforderung sei, alle ihren Möglichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend einzubeziehen. In Sieben Linden wird basisdemokratisch abgestimmt. Auch die Kinder dürfen mitreden. Oberstes Prinzip ist die gewaltfreie Kommunikation. Dabei gibt es keine Verlierer.  

Interessierte schließen sich zu Nachbarschaften zusammen, mit dem Ziel, früher oder später ein gemeinsames Wohnhaus zu bauen. Michael Würfel gehört zur "Bande", einer Gruppe aus Bauwagen-Bewohnern, die sich im Halbkreis um ein Haus aufgestellt haben.

umweltfreundliche Häuser in Holzbauweise und mit Solarkollektoren oder aus Stroh und mit Lehmputz (im Hintergrund) entstehen im Ökodorf "Sieben Linden". (Foto:DW/Karin Jäger)
Hohe Lebensqualitäten in NeubautenBild: DW

Das Gebäude, ganz aus Holz, Stroh und Lehm, haben sie von einer Lebensgemeinschaft übernommen, die sich nach einem Streit aufgelöst hat. Michael plant, mit seiner Gruppe ein Wohnhaus zu bauen, denn die Bauwagen wurden nur als Provisorium von den Behörden genehmigt. Bis so ein Haus entsteht, vergehen Jahre.

Lebensqualität ist keine Frage materiellen Reichtums

Zwölftausend Euro muss jeder Sieben Lindener-Bürger einbezahlen als Einlage in die gemeinsame Genossenschaft. Simone Britsch wohnt mit ihrem Mann und vier Kindern in drei Zimmern in einer Hausgemeinschaft. 16 Leute teilen sich eine Küche, Bäder und einen Wohnraum. "Wir haben weniger Raum als der Duchschnittsdeutsche, aber viel mehr als die meisten Menschen auf dieser Welt. Das sind doch paradiesische Zustände", relativiert die 38-Jährige.  

Simone Britsch, Ökologin und Bildungsreferentin im Ökodorf "Sieben Linden". (Foto:DW/Karin Jäger)
Simone Britsch im GlückBild: DW

Zur Philosophie der Ökodörfler gehört es, sparsam mit Bauland umzugehen. Simone wirkt ebenso entspannt wie all die anderen Dorfbewohner. Für sie und ihre Familie gebe es keinen besseren Ort, um sich zu verwirklichen, beschreibt die Soziologin ihr Glück. Ihre Kinder wachsen inmitten der Gemeinschaft auf und haben auch andere erwachsene Bezugspersonen. Simones Familie kann, wie alle Dorfbewohner, nach Anmeldung die vegetarischen Mahlzeiten aus selbst angebautem Gemüse in der Gemeinschaftsküche einnehmen. Ein Glücksfall sei auch, dass ihr Arbeitsplatz einen Steinwurf vom Haus entfernt ist. Von dort aus organisiert sie Umweltseminare. "Mir fehlt hier nichts", sagt sie. Es gebe Tanzkurse, einen Chor, eine Nordic-Walking-Gruppe, eine Sauna, eine Werkstatt, eine Kneipe, aber es mangele an Zeit, das reichhaltige Angebot wahrzunehmen. Einen Schlüssel hat sie seit Jahren nicht mehr in der Hand gehabt. Alle Türen stehen offen. Sogar das Auto teilt sich Familie Britsch mit drei anderen Familien, aber auch andere Dorfbewohner dürfen es nutzen. "Dadurch entstehen Kontakte", freut sie sich: "Und wenn ich etwas brauche, gibt es den ökologischen Versandhandel."

Provisorische Bauwagensiedlung im Ökodorf "Sieben Linden". (Foto:DW/Karin Jäger)
Bauwagen - ein ProvisoriumBild: DW

Während auf dem ganzen Dorfgelände absolutes Handy-Verbot gilt, sind sogar die Bauwagen mit Telefon und Internetanschluss ausgestattet.  Wer etwas abzugeben hat, deponiert es in Regalen und auf einer Wäscheleine vor dem Eingang des Haupthauses. Wer sich schneller bewegen will, nimmt ein Fahrrad. Trotzdem kann jeder bei Bedarf sein Recht auf Privatheit reklamieren. Beim Dorfrundgang fallen Bauwagen auf, die etwas abseits stehen, und Schilder mit Aufschriften wie "Stopp" oder "Privat" stechen ins Auge. Die sollen neugierige Besucher davon abhalten, den Bewohnern ungefragt auf den Leib zu rücken.

Langer Weg zur Green Card für den Ökoplaneten "Sieben Linden"

Die Annäherung an Sieben Linden kann nur langsam erfolgen. Ausstiegswillige, die mit gepackten Koffern auftauchen, werden abgewiesen. Kandidaten, die eine Aufnahme in die Dorfgemeinschaft begehren, müssen bei Seminaren, Kennenlern-Wochen und mehrwöchigen Gemeinschaftskursen ihre Eignung unter Beweis stellen. Dann erst erfolgt die einjährige Probezeit inklusive Wohnen im Bauwagen. 

Dieter Halbach erwägt, Sieben Linden zu verlassen, weil die urbane Nähe fehle. Der Dorfgemeinschaft werde er auf jeden Fall verbunden bleiben, sagt er zum Abschluss. Und er wird einen anderen glücklich machen, der auf der Warteliste steht für Anwärter auf Neuzuzug.  Denn Sieben Linden ist das einzige Dorf im ganzen Bundesland Sachsen-Anhalt, das Zuwachs zu verzeichnen hat. 300 Menschen sollen langfristig in der Siedlung leben, dann mit Geschäften und einer Grundschule. Nur an den Bau einer Kirche denken die meisten Bewohner nicht. Aber auch das kann sich noch ändern. Mit der Zeit.

Autorin: Karin Jäger
Redaktion: Friedel Taube