Klassenfahrt nach Afrika
6. September 2012Nie hätten sie gedacht, dass sie ausgerechnet mit deutschem Schwarzbrot so viel Geld verdienen würden. Jahrelang hatte eine Gruppe von behinderten Schülern der Bonner Christopherusschule das selbst gebackene Brot in den Pausen verkauft - und plötzlich genug Geld, um den Traum einer weiten Reise wahr werden zu lassen. Mit dem Flugzeug wollten die lern- und körperbehinderten Jugendlichen in die Wüste, auf Kamelen reiten und in einer Oase Zitronen pflücken. Schließlich fiel ihre Wahl auf die tunesische Mittelmeerinsel Djerba. Eine Entscheidung, mit der vor zehn Jahren eine in Deutschland einmalige Schulpartnerschaft begann.
"Als die Schüler überlegten, was sie auf der Reise alles sehen wollten, kam plötzlich die Frage auf, ob es auf Djerba eigentlich auch eine Schule für behinderte Kinder gibt", erinnert sich Konrektor Jürgen Hammerschlag-Mäsgen. Denn die Bonner Christopherusschule ist eine Förderschule, in der ausschließlich behinderte Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren unterrichtet werden. In Tunesien sind solche Schulen eher unüblich, doch die Lehrer wurden tatsächlich fündig. Über den deutsch-tunesischen Freundeskreis kamen sie an die Adresse des Behindertenzentrums UTAIM (Union Tunisienne d'Aide aus Insuffisants Mentaux) in El May. Ein erster Besuch wurde organisiert und die deutsch-tunesische Schulpartnerschaft war geboren.
Begeisterte Schüler, besorgte Eltern
Insgesamt acht Schüleraustausche hat es in den vergangenen zehn Jahren gegeben. Viermal waren 10 bis 13 deutsche Schüler einer 10. Klasse auf Djerba und viermal kamen ebenso viele tunesische Schüler nach Bonn. Finanziert werden die Klassenfahrten größtenteils vom "Entwicklungspolitischen Schulaustauschprogramm" ENSA in Berlin. Es fördert auch die Reisen der tunesischen Schüler. Für sie seien die Klassenfahrten nach Bonn noch aufregender als für die deutschen Jugendlichen, erzählt die stellvertretende Vorsitzende des Trägervereins in El May, Rabiaa Querimi. "Kaum eine Familie war schon mal in Europa, erst recht nicht mit einem behinderten Kind."
Für viele Eltern sei es schon ein großer Schritt gewesen, ihre Kinder zur Ausbildung in die Schule zu schicken, sagt Rabiaa Querimi. "Behinderung ist in den meisten Familien ein Grund, sich zu schämen." Daher würden die Kinder eher zuhause versteckt. Ihnen nicht nur den Schulbesuch zu erlauben, sondern sie auch noch so weit weg reisen zu lassen, sei vielen Eltern zunächst unheimlich gewesen. "Doch nachdem ihre Kinder wohlbehalten und glücklich von der ersten Reise zurückgekommen sind, waren sie begeistert", erzählt Rabiaa Querimi.
Reisen macht stark
Die Klassenfahrt habe die Schüler selbstständiger und selbstbewusster gemacht, betont die Vereinsvorsitzende, die auch Lehrerin ist. "Und wir haben viel über Pünktlichkeit gelernt", lacht sie. Aufeinander zugehen, miteinander reden, ohne die Sprache zu verstehen – auch das sei eine Herausforderung, die die Schüler stark mache. Und zwar nicht nur die tunesischen Jugendlichen. "Mit dem Unterhalten war das so eine Sache", schmunzelt der 17-jährige Hendrik, der an der letzten Klassenfahrt nach Djerba im Herbst 2010 teilgenommen hat.
"Wir konnten zwei Mitschüler, die arabisch sprechen, um Hilfe bitten, aber wenn die gerade nicht da waren, haben wir unser Heft herausgeholt", erzählt der Autist. Das kleine, selbst gebastelte Heft mit Bildern und einfachen Sätzen auf Deutsch und Arabisch half bei der Kommunikation. Ansonsten sei es auch mit Händen und Füßen gegangen, so Hendrik. Überhaupt musste in El May deutlich mehr improvisiert werden als in Bonn, besonders für die Rollstuhlfahrer. "Barrierefrei ist dort eigentlich nichts“, meint die 16-jährige Isabelle.
Handwerken statt Mathematik
Von behindertengerechten Klassenräumen kann das Zentrum nur träumen. Die Schule ist ein zweistöckiges Gebäude mit Balkonen und Dachterrassen, umgeben von einer blütenumrankten Mauer. 88 behinderte Schüler im Alter zwischen fünf und 32 Jahren werden hier betreut. Klassische Unterrichtsfächer wie in Deutschland gibt es nicht. Statt dessen lernen die Schüler, von denen der Großteil geistig behindert ist, Keramikwaren herzustellen. Denn irgendwann sollen sie wenigstens einige Dinar zum Familieneinkommen hinzuverdienen. Und Töpfern gehört auf Djerba zu den traditionsreichen Handwerken, von denen auf der Mittelmeerinsel viele Menschen leben.
Die Produkte, die in El May hergestellt werden, verkauft das Behindertenzentrum. Schließlich muss es 70 Prozent seiner Gesamtkosten selbst erwirtschaften, den Rest finanziert der tunesische Staat. Finanziell ist das Zentrum längst nicht so gut ausgestattet wie die Bonner Förderschule mit ihren 220 Schülern und rund 100 Lehrern, Sonderpädagogen und Physiotherapeuten. Doch Rabiaa Querimi hofft, dass die neue tunesische Regierung bereit ist, künftig mehr für behinderte Menschen zu tun.
"Eigentlich war das ein Versprechen der tunesischen Revolution", sagt sie. "Bisher ist es noch nicht erfüllt worden, aber wir warten darauf."