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Ein Tag für die Zukunft des Judentums

Oliver Samson15. September 2006

Ein großer Schritt für das jüdische Leben in Deutschland ist getan: Am 14. September wurden in der Dresdner Synagoge zum ersten Mal seit der Shoah Rabbiner geweiht. Ein bewegender Tag voll Freude, Aufbruch - und Last.

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Die zukünftigen Rabbiner Daniel Alter aus Deutschland, Malcolm Mattitiani aus Südafrika und Tomas Kucera aus TschechienBild: AP

Geprobt wurde bis kurz davor: Was hat der Vorsänger zu singen - und wann? Wann setzt der Chor ein, wann die Orgel, wer trägt die Thora-Rolle zur Lesung und vor allem wie schnell - und sollte nicht vielleicht der Schlüssel gleich am Schrein stecken bleiben? Gut ein Dutzend hochrangige Rabbiner und Ehrengäste üben in der Synagoge in Dresden Laufwege und Einsätze. Debattiert und gescherzt wird dabei in Deutsch und Englisch. Natürlich haben sie alle schon hunderte, wenn nicht tausende jüdische Gottesdienste gefeiert, aber bei diesem speziellen darf nichts schief gehen.

47 Grußworte

Das Ereignis wird live im Fernsehen übertragen - und die Ordination dreier Rabbiner in Deutschland ist schließlich ein ganz besonderes Ereignis.

Rabbiner Daniel Alter
Daniel Alter, einziger Deutscher der drei neuen Rabbis, übernimmt die Gemeinde in OldenburgBild: AP

Davon zeugt schon das Festprogramm, das an diesem Morgen auf jedem Platz der Synagoge ausliegt. 47 Grußworte sind dort auf 103 Seiten zu finden. Von Bundespräsident Köhler bis zu Kanzlerin Merkel, von Kardinal Lehmann zu einem Bundeswehr-Vertreter und dem Verband der amerikanischen Rabbiner. Alle sprechen sie von der historischen Bedeutung dieses Tages in Dresden - und der besonderen Symbolik der ersten Rabbiner-Weihe in Deutschland 60 Jahre nach dem Holocaust.

Inzwischen haben auch die Sprengstoffspürhunde der Polizei ihre Arbeit getan. Der Vorplatz der Synagoge unter Platanen und herrlicher Spätsommersonne füllt sich allmählich. Man sieht die Kuppel der Frauenkirche von hier. Das Symbol der Widerauferstehung Dresdens ist nur einen Steinwurf entfernt. Die Synagoge ist ein neu dazugekommenes Symbol der Widerauferstehung. Hier stand einst das jüdische Gotteshaus, 1840 von Semper erbaut, Teil des weltberühmten Dresdner Elb-Ensembles. Beide, Frauenkirche und Synagoge, gingen in einem von den Nazis entfachten Feuersturm unter. Die Synagoge wurde in der Pogromnacht am 9. November 1938 niedergebrannt. 2002 wurde die neue Synagoge geweiht, ein hoher Kubus aus hellbraunem Elbsandstein, der von Architekturkritikern viel Lob bekam.

Der rote Cowboyhut

Mehr als 200 Gäste sind geladen, nicht viel weniger Journalisten akkreditiert. Die Laune der meisten Festgäste ist prächtig. Sie kommen von überall auf der Welt hierher, um diesen besonderen Tag zu feiern. Ein älterer Rabbi trägt einen knallroten Cowboyhut. Von den Hoffnungen auf die Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland ist viel die Rede, von der Fortführung einer unterbrochenen Tradition, vom enormen Anwachsen der jüdischen Gemeinde durch Zuzug aus der ehemaligen Sowjetunion und vom dramatischen Mangel an Rabbis in Deutschland. Vor fünf Jahren wurde deswegen das Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam gegründet, deren ersten Absolventen nun geweiht werden. "We train Rabbis for Europe" heißt das flotte Motto der Institution. Es gehört zu den progressivsten Strömungen im Judentum: Frauen sind dort liturgisch gleichberechtigt, es gibt eine Orgel in der Synagoge und der Mann mit dem roten Cowboyhut ist Rabbiner Allen H. Podet, Professor in Buffalo und Gründungsdirektor des Potsdamer Instituts.

"Es ist ein großer Tag für das Judentum in Deutschland, aber auch für Deutschland selbst", sagt Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt, umringt von einer Traube Journalisten. "Das jüdische Leben war ein elementarer Teil der deutschen Kultur und hat sie bereichert. Ich freue mich, dass wir da wieder anknüpfen können."

16 Generationen Rabbiner

In der Synagoge wird es nun ernst. Alle Plätze in dem hohen, holzgetäfelten Raum mit den charakteristischen Goldvorhängen an den Seiten sind besetzt. Viele haben inzwischen den Gebetsschal umgelegt.

Die Ordination findet im Rahmen eines Morgengottesdienstes statt, perfekt inszeniert mit Gesang und Gebet, Orgel und Trompeten, mit Thora-Lesung und ohne Predigt. Höhepunkt ist die Übergabe der Urkunden an die nun frischgebackenen Rabbiner. Rabbi Professor Walter Jacob, einer der Gründer des Geiger Kollegs, spricht einen persönlichen Segen für jeden der drei.

Jacob kommt aus einer Familie, die 15 Generationen Rabbiner in Deutschland hervorbrachte. Er ist der 16. Als Jacob mit tränenbrüchiger Stimme von der Emigration 1939 erzählt und wie er es nie für möglich gehalten hätte, dass neues jüdisches Leben in diesem Land entstehen könnte, weinen viele. Auch Daniel Alter, der Deutsche der drei neuen Rabbiner. Er wird die Gemeinde in Oldenburg übernehmen.

"Das war für mich der bewegendste Moment", sagt Rabbi Alter später, wieder im Sonnenschein vor der Synagoge, nachdem er die Glückwünsche seiner Familie, Freunde und Lehrer entgegengenommen hat. "Mir war das schon bewusst, aber da wurde noch mal das Gefühl ganz nach vorne geholt, dass ich eine ganz, ganz große Verantwortung übernehme. Das hat mich emotional mitgenommen - aber nicht als bedrückende Last. Manche Päckchen, die man trägt, sind süß."

Mitglieder der abrahamitischen Religion

"Ein starkes Zeichen für jüdisches Leben in Deutschland" nannte die Bundesbildungsministerin Annette Schavan den bewegenden Gottesdienst direkt im Anschluss. "Es ist aber auch ein Signal für glaubende Menschen in unserem Land generell. Wir Juden, Muslime und Christen sind alle Mitglieder der großen abrahamitischen Religion und in solch einem Gottesdienst wird einem deutlich, was das heute bedeutet. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen: Die jüdischen Gemeinden können aus ihren Reihen heraus Seelsorger motivieren, sich einem neuen Auftrag zu stellen."

Zwölf Studenten bereiten sich in Potsdam darauf vor, den drei ersten Absolventen nachzufolgen. Im folgenden Jahr wird keiner abschließen, erst 2008 soll die nächste Weihe erfolgen. Wahrscheinlich werden die Absolventen dann eine völlig andere Ordination erleben. Ohne Live-Übertragung, Ministerpräsidenten und Ministerinnen und wahrscheinlich auch mit deutlich weniger Grußworten - und damit vielleicht auch mit einem Stück weniger von der süßen Last. "Verstehen Sie mich nicht falsch, ich stehe gern hier, aber offen gesagt, hätte ich das schon gern ein bisschen intimer gehabt, ohne den ganzen Rummel", sagt der neue Rabbiner Alter. "Das wäre für mich, meine Freunde und Familie schon schöner gewesen."