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Glaube

Ein Tag des Missverständnisses

31. März 2023

Der Palmsonntag zeigt: Jesus wurde gründlich missverstanden. Kaum wurde ihm das "Hosanna" zugejubelt, ertönt aus gleichem Mund das "Kreuzige ihn". Haben wir mit Gott heute nicht das gleiche Problem?

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Katholische Bischofskonferenz
Bild: Gemeinfrei/Kath. Bischofskonferenz

Palmsonntag. In meinen Kindheitsjahren bedeutete dieser für mich, dass wir  mit einem kleinen Bund Weidenkätzchen in die Kirche gingen und dass der Gottesdienst an diesem Sonntag zu den sehr langen Gottesdiensten zählte. Wenn es nicht gerade in Strömen regnete, begann er vor der Kirche. Dort hatte sich die Gemeinde versammelt. Der Pfarrer segnete die Palmzweige alias Weidenkätzchen und las aus der Bibel vor, wie Jesus vor gut 2000 Jahren auf einer Eselin in die Stadt Jerusalem einzog. Die Menschen bejubelten ihn, schnitten Zweige von den Bäumen oder legten gar ihre Kleider vor ihn auf den Weg. Sie riefen ihm Hosanna zu, ein Bitt- oder auch Jubelruf, der an jemanden gerichtet wurde, von dem man sich Rettung versprach. Niemand wunderte sich, dass jemand, den man wie einen König verehrte und von dem damals viele die politische Befreiung Israels von der römischen Besatzungsmacht erwarteten, friedfertig auf einem Esel daher kam – jedenfalls steht davon nichts  in der Bibel.
In Anlehnung an diesen Einzug in Jerusalem zog die Gemeinde dann mit den gesegneten Palmzweigen in die Kirche, wo der Gottesdienst seine Fortsetzung fand. Hier wurde die weitere Geschichte Jesu vorgetragen und zwar anders als sonst mit mehreren Vorlesern. Das dauerte, zumindest für mich als Kind sehr lange. Die Geschichte Jesu endet nicht schön. Sie erzählt, wie er mit seinen engsten Vertrauten am damals noch nicht so genannten Gründonnerstag zu Abend isst, wohlwissend dass es das letzte gemeinsame Essen sein wird. Die Geschichte erzählt weiter, wie er in der Nacht betet. Er hat Angst. Er bittet Gott, seinen Vater, dass das, was ihn an Furchtbarem erwartet, nicht eintritt. Es wird nicht berichtet, wie schwer ihm die dann folgenden an Gott gerichteten Worte über die Lippen kamen: "Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst." Er wird in derselben Nacht von einem seiner engsten Jünger verraten, gefangengenommen, verhört, verspottet, misshandelt. Und die, die ihm noch kurz vorher "Hosanna" zugejubelt und ihre Kleider vor ihm ausgebreitet haben, fordern seinen Tod. Aus "Hosanna" wird "kreuzige ihn". Die Lesungstexte am Palmsonntag enden damit, dass Jesus gekreuzigt und begraben und sein Grab bewacht wird, damit sein Leichnam nicht gestohlen werden kann und man hinterher behaupten könne, er sei auferstanden.

Als Kind habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was diese Geschichte für mich bedeutet. Ich kannte die Geschichten über Jesus, ich bin damit aufgewachsen. Vielleicht brauchte es erst die Erfahrungen im Leben, die mich verstehen ließen, wie sehr der Palmsonntag auch mit mir zu tun hat. Ich freue mich über Lob und weiß um dessen Kurzlebigkeit. Sportler:innen, als ein Beispiel von vielen, können ein Lied davon singen. Mir fällt aus früheren Jahren die Rekordschwimmerin Franziska van Almsick ein. Der "Goldfisch", wie sie genannt wurde, erschwamm zehn Olympiamedaillen, zwei WM- und 18 EM-Titel. Doch sie musste schmerzhafte Häme und fiese Bezeichnungen ertragen, wenn es mal nicht zu einer Medaille reichte.  Wehe, die Erwartungen werden nicht erfüllt. Da wird's dann richtig gnadenlos. Doch im Palmsonntag steckt für mich noch mehr. Ich bezeichne ihn mal als Tag des  großen Missverständnis'. Damals war es die Verkennung Jesu als politischer Befreier. Und heute? Wie wird Jesus als Retter und Erlöser verstanden? Oder Gott überhaupt, von dem als die Liebe die Rede ist. Der allmächtig ist und der nur Gutes für uns Menschen will. Steht das nicht im krassen Widerspruch zur Realität? Gott hat sich dem Risiko ausgesetzt, missverstanden zu werden. Wenn Gott das Gute für uns will, so fragen manche, warum lässt er dann zu, dass Unschuldige ihre Heimat verlassen müssen, dass Mütter ihre Männer und Söhne im Krieg verlieren, dass Kinder vor Hunger sterben. Dass Menschen ohne eigenes Verschulden in existentielle Not geraten, der Familienvater von drei kleinen Kindern den Kampf gegen den Krebs verliert oder die als vermisst gemeldete minderjährige Tochter nur noch tot aufgefunden wird. Das ist doch die Hölle! Durch diese Hölle ist Jesus selbst auch gegangen. Er kennt abgrundtiefe Verlassenheit, er kennt körperliche und seelische Qualen, er kennt quälende Angst – weil er selbst all dies am eigenen Leib erfahren hat. In einem ihrer Bücher bringt es die Schriftstellerin und Referentin Andrea Schwarz auf den Punkt: "Ein Gott, der herunterkommt, der sich ins dunkelste Dunkel mit hineinbegibt, in Leid und Schmerz, Verlassenheit und Angst  - weil er uns nicht allein lassen will, wenn wir fallen, wenn wir straucheln, wenn der Tod uns scheinbar besiegt. Das ist seine Liebe zu uns, seine im wahrsten Sinne des Wortes abgrundtiefe Solidarität." Hat Gott uns nicht mehr verheißen? Ein Leben in Fülle? Ein Leben, in dem der Tod nicht das letzte Wort spricht? Hat er. Aber anders als wir es gern verstehen würden. Dazu noch einmal Andrea Schwarz: "Wir brauchen dem Dunkel, dem Scheitern, der Verlassenheit in unserem Leben nicht auszuweichen. Es gehört zur Realität unseres Lebens dazu – und niemand, auch nicht Gott, kann es uns ersparen. Und jeder, der so etwas verspricht, ist schlicht und ergreifend ein Lügner. Der Tod ist Teil unseres Lebens. Aber mitten im Tod, mitten im Dunkel, ist er dabei, geht mit uns. Und er wird unsere Tränen abwischen und sie sorgsam in seinem Krug sammeln. Er wird nicht verhindern können, dass wir weinen. Aber das hat er uns auch nie versprochen..."

Ist die Verheißung von einem Leben in Fülle also nur eine Jenseitsvertröstung? Meine Erfahrung sagt Nein. Denn manchmal leuchtet im Leben, oft sogar in den schwierigsten Momenten, etwas auf, das hinter dem liegt, was tatsächlich zu sehen ist. Ich nenne es ein kleines Ostern, ein Bruchstück erfüllter Verheißung Gottes. Als Zeichen für das, was Gott für uns bereitet hat.

 

Zitate aus: Andrea Schwarz, Eigentlich ist Ostern ganz anders. Hoffnungstexte, Freiburg 2009, 64.

 

Zur Autorin:

Andrea Wilke, Jg. 1964, Dipl.theol., verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit des Bistums Erfurt und Rundfunkbeauftragte und seit 1995 Autorin und Sprecherin kirchlicher Verkündigungssendungen im MDR und Deutschlandfunk/ Deutschlandfunk Kultur.

Ein besonderes Geschenk ist für sie ihr Sohn, der ihr durch seine Behinderung eine andere Welt eröffnet hat.