Ein Leben in seelischer Dunkelheit
Sie ist eine ernsthafte Erkrankung und mehr als nur eine temporäre Traurigkeit: die Depression.Treffen kann sie jeden, manchmal ganz unvermittelt. Nicht jeder traut sich jedoch, darüber zu sprechen.
Mehr als 300 Millionen Menschen weltweit gelten nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO als depressiv, davon schätzungsweise 4,1 bis sechs Millionen Menschen in Deutschland. Die WHO hatte im Jahr 2017 mit der weltweiten Kampagne „Depression: Let’s talk“ auf die Krankheit aufmerksam gemacht. Es sollte öffentlich gemacht werden, dass es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handelt. Denn gesellschaftlich gibt es eine Stigmatisierung Stigmatisierung, -en (f.) die negative Charakterisierung von jemandem durch ein bestimmtes Merkmal der Krankheit. Dabei ist es nach Ansicht von Thomas Müller-Rörich, dem ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Depressionsliga, absolut notwendig, die Krankheit viel stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken – auch weil es mehr Menschen betrifft als man denkt:
„Untersuchungen haben gezeigt, dass das Lebenszeitrisiko an einer psychischen Erkrankung zu erkranken, bei etwa 50 Prozent liegt. Das heißt, jeder Zweite von uns wird irgendwann im Laufe seines Lebens eine behandlungsbedürftige psychische Problematik entwickeln. Es kann jeden treffen. Die Chance dafür ist relativ hoch.“
Und, so sagt Professor Dr. Ulrich Hegerl, Leiter der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig, man kann keine bestimmte Gruppe ausmachen, die allein anfällig ist (für etwas) anfällig sein (für etwas) besonders empfänglich sein :
„Sie trifft den erfolgreichen Fußballer, sie trifft den Manager, sie trifft den Arbeitslosen, sie trifft Frauen doppelt so häufig etwa wie Männer.“
Für eine Depression gibt es zahlreiche Anzeichen. Sie müssen mindestens über zwei Wochen permanent vorhanden sein. Es geht dabei nicht nur um eine gedrückte Stimmung. Menschen mit Depressionen sind unfähig, Freude zu empfinden, sind innerlich wie versteinert versteinert hier: so, dass jemand nichts empfinden kann . Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, innere Leere überwiegen. Schuld und Angstgefühle hindern sie oft, ihren Alltag zu meistern. Sie leiden unter einem dauernden Erschöpfungszustand, haben Schlafstörungen und zahlreiche andere körperliche Beschwerden oder leiden gar an Wahnvorstellungen Wahnvorstellung, -en (f.) eine zwanghafte Idee, die der Realität nicht entspricht und krankhaft ist . Unterschiedliche Faktoren können dazu führen, dass jemand an einer Depression erkrankt, sagt Professor Hegerl:
„Da finden wir früh Erlebnisse in der Kindheit, wir finden akute Stresssituationen, Überlastungssituationen, wir finden Trauer, die als Auslöser wirken können.“
Nicht jeder traut sich allerdings, über den eigenen Zustand zu sprechen – wenn doch, dann Frauen eher als Männer. Den Grund vermutet Thomas Müller-Rörich im jeweiligen Rollenbild:
„Das kann sehr, sehr gut damit zusammenhängen, dass Frauen eher bereit sind, diesen – in Anführungszeichen – ‚Makel‘ einer psychischen Erkrankung zu ertragen und zu sagen: ‚Okay ich bin schwach, ich bin krank, nicht schwach, aber krank‘. Während Männer sehr schnell denken: ‚Das da muss ich auf jeden Fall verheimlichen. So etwas wie eine psychische Erkrankung darf bei mir einfach überhaupt nicht festgestellt werden‘.“
Über eine psychische Erkrankung zu sprechen, betrachten Frauen im Vergleich zu Männern weniger als Makel. Es ist nichts Fehlerhaftes, das sie in den eigenen Augen und denen anderer als unvollkommen erscheinen lässt. Mit dem männlichen Rollenbild verträgt sich das Zugeben einer Schwäche nicht. Männer verheimlichen, verbergen, eine Depression eher. Mit oft fatalen Konsequenzen. Die Suizid Suizid, -e (m.) ein Selbstmord rate ist bei Männern höher als bei Frauen. Wie aber könnte man dafür sorgen, dass auch Männer ihre Scheu verlieren die Scheu verlieren umgangssprachlich für: keine Angst haben; sich trauen , über ihre Erkrankung zu sprechen und Hilfe zu suchen? Nach Ansicht von Thomas Müller-Rörich ist es nicht ganz leicht, das männliche Rollenbild aufzuweichen. Er sieht nur eine Möglichkeit, nämlich das Thema offen anzusprechen:
„Dass Depressionen – oder auch andere psychische Erkrankungen – eine Erkrankung sind wie jede andere Erkrankung auch. Die kommt über einen wie eine Grippe. Die hat zwar andere Ursachen, aber letzten Endes kann kein Mensch etwas für eine psychische Erkrankung, und sie ist auch niemals ein Anzeichen dafür, was dieser Mensch wert ist oder nicht wert ist.“
Eine Depression ist wie eine Erkältungskrankheit, die einen plötzlich befällt, über einen kommt. Nur wer offen mit seiner depressiven Erkrankung umgeht, sich vergegenwärtigt, dass sie nicht durch eigenes Zutun entstanden ist, der ist auch bereit dazu, professionelle Hilfe zu suchen. Eine nicht unwichtige Rolle spielen dabei dann auch die Angehörigen, sagt Thomas Müller-Rörich:
„Was eigentlich geschehen sollte, ist, dass, wenn ’ne Depression auftritt, dass man die Angehörigen von vornherein mit ins Boot nimmt und sich die Gesamtsituation anguckt inklusive der Kinder. Die sind nämlich auch stark davon betroffen und leiden sehr dadrunter, wenn ein Partner, ein Elternteil erkrankt.“
Familienangehörige und Verwandte wissen häufig nicht, wie sie auf den Zustand des oder der Erkrankten reagieren sollen. Deshalb sollten sie in den Prozess einer Therapie – sowohl medikamentöser als auch psychotherapeutischer Art – einbezogen, mit ins Boot genommen werden. In Deutschland ist – anders als in vielen Ländern weltweit – die entsprechende Infrastruktur dafür vorhanden. Es gibt Therapeuten, und die Möglichkeit der medizinischen Behandlung mit sogenannten Antidepressiva Antidepressivum, Antidepressiva (n.) ein Medikament gegen Depressionen (eine psychische Krankheit, bei der man längere Zeit mutlos und traurig ist) ist vorhanden. Nach Ansicht von Thomas Müller-Rörich muss aber noch mehr über die Krankheit aufgeklärt werden:
„Das müsste eigentlich auf vielen Ebenen passieren, zum Beispiel in den Betrieben, weil Depressionen am Arbeitsplatz eben recht komplizierte Problematiken schaffen, und die Personalverantwortlichen fühlen sich eigentlich selten in der Lage, damit angemessen umzugehen, weil sie einfach viel zu wenig Informationen haben und nicht wissen, wie sie mit psychisch erkrankten Menschen umgehen sollen. Und das ist eigentlich im alltäglichen Miteinander genauso.“
Sind Mitarbeiter, die sich sonst immer umgänglich umgänglich so, dass jemand anderen gegenüber freundlich ist; unkompliziert und engagiert zeigten, plötzlich sehr gereizt, unkonzentriert, häufig krank oder ziehen sich zurück, kann das Ausdruck einer Depression sein. Die Erkrankung schafft komplizierte Problematiken. Vorgesetzte und Kollegen reagieren meist verständnislos – es sei denn, sie können das Verhalten richtig deuten, weil sie informiert sind. Thomas Müller-Rörich ist ein Beispiel dafür, dass man es herausschaffen kann aus dem dunklen seelischen Loch voller Hoffnungslosigkeit und innerer Leere. Ihm hat nicht nur das richtige Medikament geholfen, sondern vor allem auch eine Psychotherapie. Denn so sagt er:
„Weil ich auch lernen musste, die Dinge in meinem Leben zu identifizieren, die Energiefresser sind. Also Depression hat meiner Meinung nach viel damit zu tun, dass man Energie verschleudert, dass man sich selbst immer wieder in frustrierende Situationen hineinbringt, falsche Ansprüche teilweise auch ans Leben hat, die teilweise überhaupt nicht realisierbar sind.“
Sorgsam mit sich umgehen, alles, was einem Lebensenergie raubt, sie auffrisst, aufgeben: Das waren für Thomas Müller-Rörich ein paar hilfreiche Erkenntnisse, um aus seiner Depression herauszufinden, so dass er nun sagen kann:
„Für mich persönlich ist die Depression als Erkrankung Vergangenheit.“
Ein Leben in seelischer Dunkelheit
Stigmatisierung, -en (f.) — die negative Charakterisierung von jemandem durch ein bestimmtes Merkmal
(für etwas) anfällig sein — (für etwas) besonders empfänglich sein
versteinert — hier: so, dass jemand nichts empfinden kann
Wahnvorstellung, -en (f.) — eine zwanghafte Idee, die der Realität nicht entspricht und krankhaft ist
Suizid, -e (m.) — ein Selbstmord
die Scheu verlieren — umgangssprachlich für: keine Angst haben; sich trauen
Antidepressivum, Antidepressiva (n.) — ein Medikament gegen Depressionen (eine psychische Krankheit, bei der man längere Zeit mutlos und traurig ist)
umgänglich — so, dass jemand anderen gegenüber freundlich ist; unkompliziert