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Ein Bilanzschieber als EZB-Präsident?

20. Juli 2002

Der EU-Ministerrat muss sich ernsthaft Gedanken über den künftigen Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) machen.

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Die EZB-Präsidentschaft hätte seine Karriere gekrönt: Jean-Claude TrichetBild: AP

Bislang galt der französischen Notenbankchef Jean-Claude Trichet als klarer Favorit für die Nachfolge von EZB-Präsident Wim Duisenberg - aber dem "Vorzeigebanker" wird der Prozess gemacht. Trichet muss sich wegen seiner Rolle im Finanzskandal um die Bank Crédit Lyonnais (CL) vor Gericht verantworten. Die Pariser Staatsanwaltschaft verzichtete am Mittwoch (17. Juli 2002) darauf, gegen diese Entscheidung eines Untersuchungsrichters Einspruch einzulegen.

Ermittlungen wegen Bilanzfälschung

Die Justiz ermittelt seit April 2000 gegen Trichet, der seit neun Jahren als Gouverneur an der Spitze der Pariser Notenbank steht. Dem 59-Jährigen wird vorgeworfen, in seinem vorangegangenen Amt als Direktor des staatlichen Schatzamtes falsche Informationen an die Finanzmärkte verbreitet und unrichtige Geschäftsangaben veröffentlicht zu haben.

So soll das damals staatliche Kreditinstitut Crédit Lyonnais einen zu niedrigen Verlust ausgewiesen haben. Trichet bestreitet, die prekäre finanzielle Situation der CL verschleiert zu haben. Die Bank machte von 1992 bis 1994 rund 3,2 Milliarden Euro Verlust. Ihre Sanierung kostete die französischen Steuerzahler gut 15 Milliarden Euro.

Der Prozess dürfte frühestens im nächsten Frühjahr beginnen. Der derzeitige EZB-Präsident Wim Duisenberg will aber bereits im Juli 2003 zurücktreten. Die Kandidatur Trichets für das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank scheint damit nach Einschätzung in der Finanzbranche fast aussichtslos. Der französische Justizminister Dominique Perben erklärte inzwischen, er werde in dieser Affäre nicht eingreifen.

Politischer Proporz

Bislang hat Paris trotz des Ermittlungsverfahrens gegen Trichet offiziell an dem erfahrenen Notenbankchef als französischen EZB-Kandidaten festgehalten. Trichet gilt als Verfechter eines starken Euro und wurde für sein Eintreten für die Stabilität der Währung hochgelobt. Doch die "Ersatzkandidaten" sind auch schon nominiert: Die besten Chancen, eventuell für Trichet einzuspringen, werden dem früheren EZB-Vizepräsidenten Christian Noyer oder auch dem Chef der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, Jean Lemierre, eingeräumt.

Der nächste EZB-Chef soll auf jeden Fall ein Franzose sein. Bereits bei Duisenbergs Ernennung 1998 wurde vereinbart, dass ein Franzose ihn ablösen würde. Kern des politischen Kuhhandels war, dass die Franzosen so bald wie möglich einen der ihren an die Spitze der EZB setzen wollten. Duisenberg hingegen war Wunschkandidat der Deutschen. Die Pariser Regierung hatte der Ernennung des Niederländers Duisenberg erst zugestimmt, nachdem sie diesem die Erklärung abgerungen hatte, vorzeitig aus dem Amt zu scheiden. (dk)