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Von #aufschrei zu #ausnahmslos

Diana Hodali13. Januar 2016

#ausnahmslos ist der neue #aufschrei: In Windeseile hat sich der Hashtag im Netz verbreitet - von Feministinnen, die gegen Sexismus und Rassismus sind. Sie fordern: In Politik und Gesellschaft muss sich einiges ändern.

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Screenshot von der Internetseite #ausnahmslos
Bild: ausnahmslos.org

Mirjam von Wehr sitzt sichtlich mitgenommen im Studio als Talkgast in der Sendung "Shabab-Talk“ - dem arabischsprachigen Jugendmagazin der Deutschen Welle. Sie ist gekommen, um darüber zu berichten, was ihr an jenem Silvesterabend in Köln passiert ist. Der Abend, an dem Frauen von großen Gruppen von Männern eingekesselt und bedrängt, belästigt, bestohlen, ja auch vergewaltigt wurden. Mirjam von Wehr war nicht auf der Domplatte, sie war bereits auf dem Weg nach Hause, als sie und eine Freundin von einem Angreifer sexuell belästigt und geschlagen wurden. Sie konnten entkommen. Zum Glück.

"Ich weiß nicht, wie man als Mann einer Frau gegenüber so brutal sein kann", sagt die Schülerin. "Ich verstehe nicht, was Menschen dazu antreibt, egal woher sie kommen, so etwas zu machen. Aber ich glaube schon, dass viele Rassisten die Situation jetzt ausnutzen und alles auf die Flüchtlinge schieben." Zahlreiche Opfer berichten der Polizei von Übergriffen durch Männer, die aus Nordafrika stammen sollen. Allein in Köln liegen mittlerweile über 550 Anzeigen vor.

Anne Wizorek (Foto: Anne Koch)
Anne Wizorek ist Autorin, Netzaktivistin und FeministinBild: Anne Koch

Sexualisierte Gewalt ist jedoch nichts Neues. 2014 - so ermittelte es die Europäische Agentur für Grundrechte - hat die Hälfte aller Frauen in Europa bereits sexuelle Belästigung erfahren und ein Drittel sexualisierte und/oder physische Gewalt erlebt.

Das Thema nicht instrumentalisieren

Es sind diese Zahlen, aber auch die Ereignisse von Köln am 31. Dezember, die eine Gruppe von Feministinnen und Aktivistinnen dazu veranlasst haben, eine neue Kampagne im Netz unter dem Hashtag #ausnahmslos zu starten. Der Aufruf lautet: "Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall. #ausnahmlos". Der Hashtag verbreitete sich in Windeseile beim Kurznachrichtendienst Twitter. Unter den Initiatorinnen sind die Journalistin und Bloggerin Kübra Gümüsay, aber auch Autorin und Aktivistin Anne Wizorek. Sie hatte 2013 die Anti-Sexismus Kampagne #aufschrei gestartet.

Die Verfasserinnen wollen sich gegen jene Populisten wenden, die die Übergriffe auf Frauen an Silvester in Köln für ihre Zwecke nutzen. "Die Debatte fokussiert sich nicht auf die Betroffenen und wie man Gewalt verhindert. Diese Lösungen werden so gut wie gar nicht diskutiert", sagt Anne Wizorek, die ebenfalls zu Gast bei der Deutschen Welle ist. "Das ist ein Problem - erst recht, wenn die Debatte jetzt instrumentalisiert wird, um die Situation für alle Geflüchteten erstmal zu verschlechtern." Denn unter den Angreifern sollen mutmaßlich sowohl Flüchtlinge als auch andere Menschen mit Migrationshintergrund gewesen sein. "Wir sollten uns nicht nur mit dem Thema sexuelle Gewalt beschäftigen, wenn sie auch von Männern mit Migrationshintergrund kommt. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem." Feministische Anliegen sollten nicht von Populisten instrumentalisiert werden, um gegen einzelne Bevölkerungsgruppen zu hetzen.

Ein Forderungskatalog

Die Feministinnen und Aktivistinnen haben daher einen Katalog mit 14 Forderungen aufgestellt, die sie in politische, gesellschaftliche und mediale Lösungsansätze aufgeteilt haben:

1. Die Arbeit der Beratungsstellen muss gestärkt und ihr Angebot ausgebaut werden.

2. Die Gesetzeslage muss angepasst werden: Sexuelle Belästigung ist in Deutschland immer noch keine eigenständige Straftat.

3. Mehr öffentliche Aufklärungsarbeit hilft, Gewalt zu vermeiden.

4. Auch eine geschlechtersensible Pädagogik kann (sexualisierter) Gewalt vorbeugen.

5. Polizei und Justiz müssen geschult werden.

6. Die Debatte über sexualisierte Gewalt muss offen, kritisch und differenziert geführt werden.

7. Es darf keine Täter_innen-Opfer-Umkehrung geben.

8. Sexismus und Rassismus sind nicht Probleme "der Anderen".

9. Wer Zeug_in von sexualisierter Gewalt und Sexismus wird, sollte nicht wegschauen, sondern eingreifen.

10. Die mediale Berichterstattung über sexualisierte Gewalt darf die Opfer nicht verhöhnen und die Taten nicht verschleiern.

11. Sexismus und andere Diskriminierungsformen müssen als Nährboden für sexualisierte Gewalt verstanden und als reale und bestehende Probleme anerkannt werden.

12. Sexismus und sexualisierte Gewalt darf nicht "islamisiert" werden.

13. Die Bildsprache ist frei von rassistischen und sexistischen Klischees zu halten.

14. Redaktionen müssen vielfältiger werden.

Prominente Unterstützung aus der Politik

Die Forderungen finden inzwischen breite Unterstützung. Unter den Unterzeichnerinnen sind die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth von den Grünen, aber auch Anne Rothe, Bloggerin und Referentin für Die Linke im NSA-Untersuchungsausschuss. Auch Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig von der SPD war Mitunterzeichnerin der ersten Stunde. Im ARD-Morgenmagazin sagte sie: "Wir haben mit sexuellen Übergriffen auf Frauen eine Straftat, die kaum zur Anzeige gebracht wird. Mir und allen Unterstützern ist es wichtig, deutlich zu machen: Sexuelle Gewalt, Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung kommen jeden Tag vor."

Anne Wizorek ist froh darüber, dass derzeit so ausführlich und heftig über das Thema debattiert wird: "Bei der Kampagne #aufschrei gab es oft Leute, die gesagt haben: 'Die Frauen sollen sich mal nicht so haben. Das ist doch alles nur ein Kompliment'." Das passiere in der aktuellen Debatte nicht mehr. Und: Den Frauen würde auch endlich geglaubt, fügt sie hinzu. Das sei nicht immer der Fall gewesen.

Dennoch: Anne Wizorek findet, die Diskussion in Deutschland werde nicht differenziert genug geführt. "Wenn wir gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt vorgehen, dürfen wir dabei nicht in die Falle tappen, rassistisch zu argumentieren. Das passiert momentan sehr stark in Deutschland und das sollte nicht der Standard unserer Debatte sein." Dem kann Mirjam von Wehr nur zustimmen. Sie wünscht sich, dass die Täter bestraft werden: "Egal, woher sie kommen."