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Ehrenmord? Afghanische Brüder im Tatverdacht

10. August 2021

Zwei aus Afghanistan stammende Brüder sollen in Berlin ihre Schwester ermordet haben. Vermutlich aus gekränktem "Ehrgefühl". Das Verbrechen könnte sich zum Aufreger im Bundestagswahlkampf entwickeln.

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Bild: picture-alliance/dpa/P. Seeger

Maryam H. war vor Jahren geflohen. Aus Afghanistan nach Deutschland. Weit weg von dem ständigen Töten, dem islamistischen Terror der Taliban und den Zwängen einer archaisch-patriarchalisch strukturierten Gesellschaft. In Deutschland gab es für sie die Chance auf ein freies, selbstbestimmtes Leben. Doch genau das ist der zweifachen Mutter, die geschieden lebte, offenbar zum Verhängnis geworden. Die 34-jährige wurde ermordet - mutmaßlich von ihren beiden Brüdern, weil ihr Lebensstil nicht deren Moralvorstellungen entsprach. Es wäre ein schreckliches Verbrechen, offenbar begangen ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt, dem liberal-lebensoffenen Berlin.

Verdacht auf sogenannten Ehrenmord

Die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt Berlin ermitteln gegen die beiden 22 und 25 Jahre alten Männer. Sie stehen unter dringendem Tatverdacht, ihre Schwester am 13. Juli in Berlin "aus gekränktem Ehrgefühl gemeinschaftlich getötet" zu haben. Seit vergangenem Mittwoch sitzen die Brüder in Untersuchungshaft. "Wir ermitteln wegen des Verdachts auf einen sogenannten Ehrenmord", sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft. Von Ehrenmorden spricht man, wenn Mädchen oder Frauen von ihren Verwandten umgebracht werden, weil sie nach deren Auffassung Unehre über die Familie gebracht haben. Ob dies allerdings der richtige Begriff für solche Taten ist, darüber wird in Deutschland immer wieder diskutiert.

Berlin Internationaler Frauentag Schild Femizid
Demonstration zum Internationalen Frauentag in BerlinBild: Christian Spicker/imago-images

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Brüder den Leichnam ihrer Schwester noch am Tattag in einem Koffer mit der Deutschen Bahn zum Wohnort des ältesten Bruders nach Bayern brachten. In Neuburg an der Donau sei Maryam H. wohl von beiden zusammen vergraben worden. Dort war ihre Leiche später gefunden worden. Eine Obduktion bestätigte den Tötungsverdacht und dass es sich um die Schwester der Tatverdächtigen handelt. Die 34-Jährige galt zunächst als vermisst. Immer mehr Hinweise deuteten jedoch auf ein Verbrechen. Nach mehreren Tagen und Auswertung unter anderem von Überwachungskameras und Zeugenaussagen erhärtete sich der Mordverdacht gegen die Brüder, die seit einigen Jahren in Deutschland leben. Gegen sie wurde dann Haftbefehl erlassen.

Hass auf westliche Lebensweise?

Fast zeitgleich zu den strafrechtlichen Ermittlungen ist eine Diskussion über die Ursachen von Ehrenmorden entbrannt. Oftmals kreist sie um die Frage, wo dieser Hass auf die westliche Lebensweise herrührt. Ein wesentlicher Aspekt sei die patriarchalische Sichtweise, sagt Martin Lessenthin, Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, im DW-Gespräch. Sie sei "oft verbunden mit einer bestimmten religiösen Haltung, die auch traditionell religiös ist". Zugleich gehe es vor allem um den Komplex von Männern, "die nicht den Erfolg im Leben erwarten können oder schon gehabt haben, den sie beruflich in einer freien Gesellschaft gerne hätten, auch im Wettbewerb mit Frauen. Die möchten im Grunde durch ihre Geburt als Mann Bestimmer bleiben", erklärt Lessenthin.

Die Juristin Clara Rigoni vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht sieht ebenfalls patriarchalische Strukturen als Hauptursache. Im Kern gehe es "um die Kontrolle der Sexualität der Frauen durch die Männer. Um die sexuelle Ehre der Frau, die die Familie glaubt, schützen zu müssen." Dies sei nicht auf muslimische Familien begrenzt, denn Ehrenmorde seien nicht unbedingt religiös motiviert. Gewalt im Namen einer traditionellen "Ehre" erlitten Mädchen und Frauen in allen Teilen der Welt. "Solche patriarchalischen Strukturen hat es in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen gegeben." Rigoni nennt im DW-Gespräch Südost-Asien, Afrika, "manchmal auch Lateinamerika, wo es beispielsweise Zwangsehen gibt. Es war aber auch so in den Mittelmeer-Regionen in der Vergangenheit und teilweise gilt das noch heute."

Politisches Ringen um Deutungshoheit

Der Fall erinnert an den Mord an Hatun Sürücü in Berlin, dem wohl bekanntesten Ehrenmord in Deutschland. Im Februar 2005 wurde die damals 23-Jährige an einer Bushaltestelle von einem ihrer Brüder mit drei Kopfschüssen umgebracht. Die kurdischstämmige Frau war zwangsverheiratet worden, hatte sich jedoch aus ihrer Ehe befreit und war mit dem Sohn zurück nach Berlin gezogen. Ihr Tod führte zu einer bundesweiten Debatte über Integration.

Berlin Gedenken an Hatun Sürücü Ehrenmord
Ein Kranz liegt am Gedenkstein für Hatun Sürücü an einer Bushaltestelle in der Oberlandstraße in BerlinBild: Rainer Jensen/dpa/picture alliance

Längst hat auch die Ermordung von Maryam H. eine politische Dimension erreicht. Politiker fast aller Parteien beziehen in Medien und sozialen Netzwerken Position. Sie ringen um Deutungshoheit, wie dieses Verbrechen einzuordnen ist – vermutlich zusätzlich befeuert vom sich aufheizenden Bundestagswahlkampf. Berlins CDU-Vorsitzender Kai Wegner forderte Konsequenzen. "Wir brauchen eine offene Debatte über gescheiterte Integration aufgrund archaischer Wertvorstellungen, die aus den Herkunftsländern nach Deutschland mitgebracht werden." Gerade junge Frauen mit Migrationshintergrund würden immer wieder Opfer von Gewalt aus der Familie.

Ruf nach dem Rechtsstaat

Die Landesvorsitzende und Spitzenkandidatin der SPD Berlin, Franziska Giffey, twitterte: "Mich erschüttert der grausame Mord an der jungen Frau und Mutter Maryam zutiefst. Ihr wurde aus verletztem Ehrgefühl das Leben genommen, weil sie so lebte, wie sie es wollte. Es muss klar benannt werden, dass das nichts anderes ist als ein schrecklicher #Ehrenmord." Sie prangert das "archaische Welt- und Frauenbild" an, das zu solchen Taten führen kann. Bettina Jarasch, Bürgermeisterkandidatin der Grünen für Berlin, twitterte: "Wenn eine Frau ermordet wird, nur weil sie selbstbestimmt und frei leben möchte, ist das ein abscheuliches Verbrechen. Wir müssen solche Morde mit aller Konsequenz des Rechtsstaats ahnden. Mein besonderes Mitgefühl gilt den Kindern, die ihre Mutter verloren haben."

Wie schnell die Emotionen bei dem Thema Ehrenmord hochkochen, zeigt die vehemente Kritik an Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach, die ihre Ablehnung der Bezeichnung "Ehrenmord" bekräftigte. Für die Linken-Politikerin ist dieser Begriff unpassend, "darin steckt die Rechtfertigung der Täter. Bei Mord gibt es keine Ehre." Die Tat sei schrecklich und grausam und für die Kinder eine besondere Belastung. "Deshalb verwende ich den Begriff Femizid. Das meint den Mord an Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Dabei geht es immer um patriarchale Strukturen. Die Täter sind Ehemänner, Partner, Väter, Söhne, Brüder und andere männliche Angehörige."

Vorwurf des Scheiterns der Integrationspolitik

Auf Twitter entgegnete unter anderen der deutsch-israelische Psychologe und Bestseller-Autor Ahmad Mansour: "Es macht mich sprachlos, wütend, wie naiv, plan- und konzeptlos die Politikerin aus Berlin mit dem Thema umgeht. Diese Politik hilft keinem Migranten, keinem Flüchtling, sondern dient nur dem Zufriedenstellen der eigenen Ideologieanhänger. #Ehrenmord."

Erwartungsgemäß schaltete sich die rechtspopulistische AfD in die Debatte ein. Beatrix von Storch, Vize-Bundessprecherin der AfD, nahm Breitenbach gezielt aufs Korn. "Die Reaktion der Linken-Senatorin Breitenbach auf einen islamischen Ehrenmord in Berlin zeigt erneut das Scheitern der linken Integrationsideologie, die sich der Realität verweigert - auf Kosten von unzähligen weiblichen Opfern in Deutschland", erklärte von Storch.

Während sich Parteien und Politiker teilweise argumentativ beharken, ist man sich darin einig, dass eine liberale Gesellschaft wie die deutsche alles Mögliche tun sollte, um Ehrenmorde zu verhindern. Nur welche konkreten Konzepte gibt es, was müsste getan werden? Es geht nur über Bildung, ist sich Martin Lessenthin sicher: "Und zwar über eine lange Strecke und über ein System, das Erfolgserlebnisse ermöglicht."

Martin Lessenthin Menschenrechtler
Der Menschenrechts-Experte Martin Lessenthin fordert mehr Bildung für mehr gesellschaftliche TeilhabeBild: picture alliance/Eventpress

Der Vorstandssprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte nennt mehrjährige "Integrations-Seminare und Schulungs-Möglichkeiten", die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zugang zur deutschen Gesellschaft erleichtern sollen. "Das ist deswegen so wichtig, weil wir ja bei anderen Migrationswellen bis heute erleben, dass Menschen, die in der dritten oder schon vierten Generation in Deutschland leben, noch immer mit einem solchen sexistischen Verhalten bis hin zum Ehrenmord auffällig werden."

Schulungen für mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt

Auch Clara Rigoni vom Max-Planck-Institut betont die Möglichkeiten einer stringenten, nachhaltigen Integrationspolitik. Auch wenn es sehr schwierig sei, patriarchalische Strukturen aufzubrechen. Rigoni verweist auf ihre Forschungsprojekte in Norwegen, wo "es für Migranten gleich anfangs Integrationskurse gibt, in denen es auch um Sexualität und sexuelle Freiheit der Frauen geht". Der Mangel an Integration müsse durch Schulungen und Arbeitsmöglichkeiten behoben werden.

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur